So kann es in Gaza-Stadt aussehen, wenn die Israelis eine Bombe abgeworfen haben. (Screenshot aus TV-Berichterstattung)

Die ganze Welt schaut nach Israel, aber die Antworten auf die gestellten Fragen sind zu simpel

(Red.) Einmal mehr melden fast alle westlichen Medien einen „unprovozierten“ Angriff der Hamas auf Israel. Patrick Lawrence, unser Kolumnist aus den USA, schaut vor allem hinter die standardisierten Kulissen der großen Medien. Wer ist mitverantwortlich? Wer ist wirklich unschuldig? Sind vielleicht auch wir mitschuldig? Es geht auch in diesem Fall nicht ohne Blick in die Geschichte. (cm)

Von all den grausamen Bildern und erschütternden Nachrichten, die aus Israel kommen, seit die Hamas am vergangenen Samstag ihren gewagten Angriff über die Grenze zum Gazastreifen gestartet hat, bleibt ein Vorfall hartnäckig in Erinnerung. Er ereignete sich am frühen Morgen des Angriffs in der Nähe eines Kibbuz namens Re’im, der in der Negev-Wüste direkt an der Grenze zwischen Israel und Gaza liegt. 

Presseberichten zufolge feierte eine große Gruppe junger Leute – offensichtlich Hunderte – die ganze Nacht hindurch einen ‹Rave›, als eine unbekannte Anzahl palästinensischer Soldaten mit dem Gleitschirm über die Grenze flog und mitten in den Feierlichkeiten landete. Ein Zeuge sagte, dass 50 weitere Milizionäre in Lieferwagen ankamen. Tod, Chaos und Panik folgten, als die Milizen aus Gaza in die Menge schossen und dann weiter feuerten, während die Raver um ihr Leben rannten. Dieser Vorfall, über den jetzt viel berichtet wird, war einer der blutigsten in den ersten Stunden dieser neuen Phase des langen Krieges zwischen dem Gazastreifen und Israel, auch wenn zwischenzeitlich bereits Schlimmeres angerichtet wurde. Überlebende und eine lokale Rettungsorganisation beziffern die Zahl der Toten dort auf 260 und sprechen von einem Massaker. 

Ein ‹Rave›, sollten Sie die gesellschaftliche Nomenklatur nicht kennen, ist eine Zusammenkunft von Partygängern, bei der mehr oder weniger alles erlaubt ist. Nach meiner sehr begrenzten Erfahrung ist der gemeinsame Gedanke bei einem richtigen Rave, dass niemand irgendwelche Gedanken hat: Sie lassen Ihren Verstand, Ihre Verpflichtungen und jede Verbindung zu dem, was wir putzigerweise die reale Welt nennen, hinter sich. Sie verlieren sich selbst, zumindest so lange, bis sich Ihre Fluchtfantasie erschöpft hat. 

Was ist der Grund dafür, dass mir die Ereignisse in Re’im nicht aus dem Kopf gehen? Nachdem ich etwas darüber nachgedacht habe, komme ich zum Schluss, dass es etwas mit der alten, archetypischen Begegnung zwischen Unschuld und Erfahrung zu tun hat. Die Bilder hätten nicht besser zu diesem Punkt passen können: Da waren diese Partylöwen, die nichts im Kopf hatten und sich wer weiß wie lange austoben wollten, und aus dem Himmel kamen schwer bewaffnete Soldaten, die viel im Kopf hatten. Der Schauplatz eines Festes wird zum Schauplatz des Grauens. Junge Unschuldige, hartgesottene Kämpfer mit tödlichen Absichten: Es war schwer, die Metaphysik zu übersehen. 

Die Medienberichte über den Angriff auf Re’im sind zahlreich, aber lückenhaft und zu sehr auf offizielle israelische Quellen angewiesen. Das erste Video, das ich sah und das ohne Quellenangabe in der New York Post veröffentlicht wurde, ist 47 Sekunden lang und schlecht aufgenommen. Die New York Times hat am Montagabend ein weiteres Video von besserer Qualität veröffentlicht. Die zahlreichen Presseberichte und die Aufnahmen der Szene, egal wie gut oder schlecht sie gemacht sind, geben Anlass, sehr genau zu überlegen, was genau uns da über den Re’im-Vorfall und damit über den israelisch-palästinensischen Konflikt insgesamt erzählt und gezeigt wird. Diese Frage ist nicht neu. Sie stellt sich jedes Mal, wenn der seit 75 Jahren andauernde Konflikt zwischen dem Staat Israel und der palästinensischen Bevölkerung, die der Staat Israel bei seiner Gründung vertrieben hat, in offene Gewalt ausbricht, so wie jetzt. Jetzt müssen wir diese Frage noch einmal stellen: Wir sind den Palästinensern, den Israelis und uns selbst eine angemessene Antwort schuldig. 

Die Interpretation, die westliche Regierungen und Konzernmedien den verfügbaren Bildern seit letztem Samstag untererlegt haben, ist so einheitlich und vorhersehbar, wie sie simplifizierend ist. Sie ist so einfach zu beschreiben, wie sie eben völlig standardisiert ist: Tugendhafte, anständige Israelis, die sich um ihr eigenes Leben kümmern, treffen auf die „Terroristen“, die „Bewaffneten“, die „Mörder“ von Gaza. Die Macht dieser Darstellung der Ereignisse ist unbestritten, da sie seit vielen Jahrzehnten verbreitet ist. Mit geringfügigen Abweichungen überlebt sie, egal was sich zwischen Israel und den palästinensischen Gebieten ereignen mag. Sie ist, sagen wir mal, unempfindlich gegenüber der realen Geschichte.

Betrachtet man den Angriff auf Re’im als ein Ereignis in der Geschichte, so scheint mir etwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein, wenn eine Gruppe junger und privilegierter Israelis ein sorgloses Wochenende im Sand verbringt, in der Nähe eines Landes, das tagtäglich und unaufhörlich leidet, eines Ortes, an dem die Unschuld seiner Kinder und Jugendlichen von dem Staat gestohlen wurde, in dem die Feiernden ihre Partys feiern. Irgendetwas stimmt da nicht: Damit meine ich, dass die dort Feiernden sich selbst als zutiefst unverantwortlich verraten haben. Das ist zumindest meine Sicht. Vielleicht unbewusst, vielleicht auch nicht, haben sie eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben anderer an den Tag gelegt, für die viele Israelis ihre Nation leider schon bekannt gemacht haben.

Einige Tage nach dem Ausbruch der Gewalt am vergangenen Samstag war ich erstaunt, dass in der Mainstream-Berichterstattung keine Erklärung dafür zu finden war, warum die Hamas beschlossen hatte, einen Angriff gegen eine Macht zu starten, die sie ja nicht besiegen kann. Warum sollte sich die Führung in Gaza für einen solchen Kurs entscheiden? Schließlich stieß ich auf Berichte, die darauf hinweisen, dass die Netanjahu-Regierung die Hamas erneut provoziert hatte, wahrscheinlich, wenn auch nicht sicher, in voller Absicht, indem sie israelischen Ultranationalisten den Zutritt zum Gelände der al-Aqsa-Moschee in Jerusalem erlaubte, einer heiligen Stätte für Muslime.  

Die Folge: Die Hamas hat die israelische Regierung am 1. Oktober vor solchen Massnahmen ausdrücklich gewarnt. Dies wurde denn auch als eine rote Linie der Hamas verstanden. Drei Tage später drangen Dutzende von absichtlich provozierenden Siedlern in den Moscheenkomplex ein, und Tausende von Siedlern haben den Komplex trotz der Warnung der Hamas vom 1. Oktober besichtigt. Soweit ich finden konnte, sind Berichte über diese Ereignisse nur bei Al Jazeera und anderen nicht-westlichen Publikationen erschienen. Man wird lange und vergeblich in den westlichen Medien suchen, um das „Warum“ der Hamas-Offensive, das Motiv, zu finden. 

Die al-Aqsa-Ereignisse mögen die Lunte entzündet haben, aber auch wenn dem so ist, dann ist es zweifelhaft, ob sie allein die Angriffe der Hamas erklären. Es gilt vielmehr, ein Dreivierteljahrhundert näher anzuschauen: die Ad-hoc-Verfolgungen und Schikanen, die Beschlagnahmungen von Land, die Überfälle auf palästinensische Städte, die Verhaftungen und Morde – und in der Summe die strafende psychologische Demütigung eines Volkes seit 75 Jahren. Die Bewohner des Gazastreifens wissen genau, dass Israel heute die rechtsextremste Regierung in seiner Geschichte hat. Selbst aus der Ferne kann man sehen, wie die Grenzen des Apartheidstaates immer schärfer gezogen werden. 

Man kann es kaum glauben, aber trotz dieser unhaltbaren Bilanz wird die Hamas-Offensive als „unprovoziert“ abgetan – ein beliebter neuer Begriff, den die USA und ihre westlichen Verbündeten verwenden, um sich aus diesem oder jenem Zusammenhang herauszureden. Russland war bekanntlich unprovoziert, als es letztes Jahr in der Ukraine intervenierte. China ist unprovoziert, wenn es sein Militär ausbaut und sich auf einen Konflikt in der Straße von Taiwan vorbereitet. Und nun steht auch noch die Hamas auf dieser Liste. Das mag lächerlich sein, aber überraschend ist es nicht. Amerika hat im Ausland nie anders gehandelt als im Namen der höchsten Prinzipien. Seit 1776 sind die USA immer die unschuldige Partei gewesen: die provozierte Partei, nie die provozierende.  

Caitlin Johnstone veröffentlichte am Sonntag eine gut gemachte Kolumne unter der Überschrift „Sie wiederholen einmal mehr das Wort ‚unprovoziert‘, diesmal zur Verteidigung Israels“. Darin zitiert die unnachahmliche Caitlin Johnstone eine nachgerade groteske Liste führender amerikanischer Politiker, die sofort erklärten, die Hamas habe ohne Provokation gehandelt. Diese Litanei von Behauptungen hintereinander zu lesen, mag amüsant sein, ist aber vor allem beleidigend. „Die palästinensische Gewalt gegen Israel als ‚unprovoziert‘ zu bezeichnen, ist fast noch lächerlicher, als die russische Invasion (in die Ukraine) als unprovoziert zu bezeichnen“, schreibt Johnstone, „weil die Missstände der israelischen Apartheid der breiten Öffentlichkeit inzwischen doch schon sehr gut bekannt sind.“ 

Wir müssen die Verwendung dieses Begriffs in jedem Fall verstehen, aber bleiben wir zunächst bei den Ereignissen, die am vergangenen Wochenende in Gaza und Israel begonnen haben. Die Fiktion, die Angriffe der Hamas seien unprovoziert erfolgt, ist für die Behauptung der israelischen Unschuld, wie oben dargelegt, absolut unerlässlich. Und nun zu den Fragen, die sich in meinem Kopf angesammelt haben, seit ich am vergangenen Samstagmorgen die Zeitung aufgeschlagen und von den Ereignissen in der Wüste bei Re’im gelesen habe. 

Niemand in Re’im hat es verdient, getötet zu werden, daran gibt es keinen Zweifel. Aber hatten die Feiernden im Sand des Negev einen Anspruch auf Unschuld? Wenn ja, worauf würde dieser Anspruch beruhen? Noch einen Schritt weiter gedacht: Können Menschen, denen das Leiden anderer, die nur wenige Kilometer entfernt sind, offensichtlich gleichgültig ist, gleichzeitig unschuldig sein? Was ist mit Menschen, die von Grund auf nicht verantwortlich zu sein scheinen? Beachten Sie in den Videos all die verlassenen Autos, die die Feiernden zurückgelassen haben: Das waren Menschen, die eindeutig das Alter der Vernunft schon erreicht hatten. Kann man sie trotzdem zu Recht als unschuldig bezeichnen? 

Vielleicht haben Sie die Äußerungen von Yoav Gallant am Montag bemerkt. Der israelische Verteidigungsminister schwenkte ganz auf die Linie Terroristen-Mörder-Killer ein, als er eine „vollständige Belagerung“ des Gazastreifens ankündigte: Lebensmittel, Wasser, Strom, Treibstoff und Medikamente sollen abgeschnitten werden. „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und wir handeln entsprechend“, erklärte Gallant. Er zog es vor, die Terminologie des «Reichs» zu paraphrasieren, anstatt sie wörtlich einzusetzen, aber die Bedeutung seiner Worte können nicht übersehen werden: Die Palästinenser sind «Untermenschen», so wie die Nazi-Ideologen es in ihrer Sprache ausgedrückt hätten.

Lassen Sie uns diese Untermenschen-Bemerkung im Zusammenhang mit unseren Fragen betrachten. Was bedeutet es, in einem Land zu leben, in dem jemand wie Yoav Gallant ein hohes und einflussreiches Amt bekleidet, Ansichten äußert, wie er sie jetzt tatsächlich äußert, und Aktionen plant, wie er sie jetzt tatsächlich plant? Wie kann man unter solchen Umständen noch unschuldig sein? Und wenn ja, aufgrund welcher Realitäten? 

Am Dienstag zitierte The Spectator einen Überlebenden des Hamas-Anschlags in Re’im mit den Worten: „Ich will nur leben!“ Es gehört schon ein gehöriges Mass Frechheit dazu, dass ein Israeli so etwas sagt – Frechheit, Ignoranz gegenüber der Geschichte, und, ich würde sagen, Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit. Wie viele Bilder haben wir von Palästinensern gesehen, die vor den Mündungen israelischer Gewehre fliehen? Wie oft müssen wir von Palästinensern lesen, deren Wasserversorgung gekappt wurde, deren Bauernhöfe verbrannt wurden, deren Krankenhäuser mangels Versorgung nicht funktionieren? Lassen Sie uns mit dieser Person, die das menschliche Leben so sehr schätzt, darüber nachdenken, was es bedeutet, unschuldig zu sein. Ich denke, dass es in unserer Zeit, in der Welt, wie wir sie geschaffen haben, äußerst schwierig ist, unschuldig zu sein, d.h. keine Mitschuld zu tragen. Mal abgesehen von den ganz jungen und den sonst machtlosen Menschen: Wer von uns ist nicht mitschuldig, wer ist wirklich unschuldig?

Ich habe diese Frage schon einmal aufgegriffen, als im Mai 2014 die Gedenkstätte und das Museum für den 11. September am Standort der Türme des World Trade Centers in Lower Manhattan eröffnet wurde. All diejenigen, die ihr Leben verloren hatten, wurden in sehr individuellen Darstellungen als unschuldige Opfer gewürdigt – die Individualisierung ist eine wesentliche Voraussetzung für jede Unschuldsbehauptung. Keiner der Toten hatte den Tod verdient, das versteht sich von selbst. Aber waren sie unschuldig? Dies war eine schwierige, aber notwendige Frage, die gestellt werden musste. 

Die Menschen in den Türmen des World Trade Centers arbeiteten für JPMorgan Chase, Cantor Fitzgerald, Marsh and McClennan, Fernsehsender, Werbeagenturen und eine Vielzahl anderer Banken, Versicherer, Medienunternehmen und dergleichen. Die New York Times, die von jedem der Opfer ein kurzes Profil veröffentlichte, stellte sie als Fußballväter, Hobbyköche, Heimwerker, gute Väter und Mütter, Ehemänner und Ehefrauen dar: als unschuldige Menschen, die ihren Lebensunterhalt verdienen. Aber viele dieser Menschen, vielleicht sogar die meisten, dienten auch dem System des globalen Kapitals, das die Ursache von Ausbeutung und Entbehrung war und ist. Es war ihre Entscheidung, für diese Unternehmen zu arbeiten, in diesem System zu dienen. Sie waren nicht unschuldig an den verschiedenen Formen der Gewalt in diesem System. Indem sie ihre Augen von dieser Realität abwandten, gaben sie einen Teil ihrer Menschlichkeit an das System ab, dem sie dienten.  

Persönliche Verantwortung, so wie die französischen Existenzialisten diesen Begriff verwendet haben: Das war mein Punkt, als ich das Denkmal für den 11. September kommentierte. Wir alle sind für das verantwortlich, was wir in jedem Augenblick unseres Lebens tun oder lassen. Das ist es, was Jean-Paul Sartre mit Freiheit meinte: Wir sind frei zu tun, was wir wollen, und wir sind für unsere Entscheidungen deshalb auch verantwortlich. 

Diese Frage der Verantwortung und die damit zusammenhängende Frage der Gleichgültigkeit bringt mich dazu, Emmanuel Lévinas zu erwähnen, den in Litauen geborenen Denker, der in der Pariser Nachkriegsszene prominent war. Lévinas beschäftigte sich mit unseren Beziehungen zum Anderen. Er vertrat die Ansicht, dass wir nicht nur die Anderen unter uns erkennen und schließlich umarmen müssen, sondern auch uns selbst als Andere verstehen müssen und – jetzt kommt das Entscheidende – dass wir für den Anderen in unserer Mitte und in dessen Gegenwart verantwortlich sind. Es geht darum, unser volles Menschsein zu verwirklichen, wie Lévinas es formulierte. 

Die Verantwortung zu übernehmen, die uns zufällt, bedeutet, einen gewissen Anspruch auf Unschuld zu bewahren, so scheint es mir. Wenn wir in uns einen Sinn für Empathie, für Mitgefühl entwickeln, oder was auch immer das Gegenteil von Gleichgültigkeit ist, bedeutet das auch, unsere Unschuld zu bewahren oder sie wiederzuerlangen. Nochmals, die Schießerei in Re’im ist nicht zu verteidigen. Aber nur diejenigen unter den Feiernden, die ihre Verantwortung für das Verhalten Israels und all die Yoav Gallants, die den Apartheidstaat leiten, verstanden und übernommen haben, können fairerweise als unschuldig an dem angesehen werden, was wir als kriminelles Regime anerkennen müssen. Es gibt eine ehrenwerte Bewegung solcher Menschen in Israel, das sollten wir nicht vergessen. Es ist schwer vorstellbar, dass eines ihrer Mitglieder an der Grenze zum Gazastreifen Party macht, aber möglich ist es natürlich auch. Dann müssen auch sie als Mitschuldige betrachtet werden.     

Ich schreibe von Israelis, aber in Wahrheit sind wir alle Israelis, insbesondere auch wir Amerikaner. Ich sage das nicht nur wegen der extravaganten politischen, militärischen und propagandistischen Unterstützung, die die USA dem Apartheidstaat gewähren, sondern auch, weil wir uns in der gleichen Zwangslage befinden. Der israelische Fall ist extrem, aber ist denn unser Fall, der Fall der Amerikaner, so viel weniger extrem? Nikki Haley, die Gott sei Dank eine politische Null ist, trat am Montagabend bei Fox News auf und sagte inmitten diverser Posen diesen Unsinn:

«Lassen Sie uns einen Schritt zurücktreten, denn ich möchte, dass das amerikanische Volk dies einen Moment lang verinnerlicht. Hier wachten die Israelis auf und ihre Familien wurden ermordet, Frauen und Kinder wurden als Geiseln genommen und durch die Straßen geschleift. All das geschah vor den Augen aller. Das sollte für jede Frau und jeden Mann in Amerika eine persönliche Betroffenheit sein. [ ] Ich werde Premierminister Netanjahu Folgendes sagen: Machen Sie sie nieder! Die Hamas hat das getan. Sie wissen, dass der Iran hinter ihnen steht. Machen Sie sie nieder!»

Endlich stimme ich mit Haley in einem Punkt überein: Die Amerikaner sollten in der Tat verstehen, dass das, was in Israel, im Gazastreifen und in den besetzten Gebieten vor sich geht, jeden persönlich betrifft. Wir haben leider eine prominente Politikerin, die öffentlich Kriegsverbrechen befürwortet, und sie ist bei weitem nicht allein. So weit ist es gekommen! Die Amerikaner können entweder die Verantwortung dafür übernehmen oder sich zumindest mitschuldig machen. Eine Alternative gibt es nicht. 

Da ist natürlich noch die Frage der Hamas, und wir sollten nicht so tun, als sei die Frage einfach. Über die Gerechtigkeit der Hamas-Angriffe auf Nichtkombattanten lässt sich nicht streiten: Es gibt keine. Aus Berichten geht aber hervor, dass viele der Toten Soldaten der israelischen Verteidigungskräfte waren, und das ist dann wieder eine ganz andere Sache. Abgesehen von den Opfern der Israel Defense Forces IDF war die Offensive der Hamas auf Zivilisten am vergangenen Wochenende taktisch, strategisch, moralisch und auch ethisch falsch. Das Einzige, was damit erreicht wurde, war Rache, und Rache ist nie produktiv und nie klug. Die Hamas hat viel von ihrem Anspruch auf Unschuld verloren, als sie Re’im und andere Orte im Süden Israels verwüstet hat. Das steht außer Frage, ungeachtet der vielen zivilen Todesopfer, für die Israel verantwortlich ist. Aber ich bestehe darauf, dass wir einen scharfen Unterschied machen zwischen dem, was ich als irrationale Angriffe betrachte, die wahrscheinlich aus fatalistischer Frustration geboren wurden, und dem Recht aller Palästinenser, sich mit Waffen gegen Israels anhaltendes, unmenschliches Verhalten zu wehren, gegen die Einsperrung der Bewohner des Gazastreifens in ein Gefängnis, das man gemeinhin als Freiluftgefängnis bezeichnet. Der Widerstand gegen die Übergriffe des Apartheidstaates ist ein gesetzliches Recht – siehe die Resolution 37/43 des Sicherheitsrates – und auch ein moralisches Recht. Ich würde behaupten, dass es auch eine Verantwortung ist, die die Palästinenser gegenüber sich selbst und den Prinzipien tragen, die uns – gelegentlich, hin und wieder – menschlich machen. Auf diese Weise ist der Widerstand gegen die Unterdrückung auch eine Verantwortung der Unterdrückten gegenüber dem Rest von uns.  

Wer ist für den Tod von Re’im verantwortlich? Dies ist die entscheidende Frage, aber nur die erste Hälfte. Zu sagen: „Hamas!“ ist nicht falsch, aber eine zu oberflächliche Antwort. Sie ist bei weitem nicht vollständig. Es dabei zu belassen, ist eine weitere Form der Komplizenschaft. Wer ist für das Klima des Missbrauchs und der Gewalt verantwortlich, das die israelisch-palästinensischen Beziehungen seit 75 Jahren prägt? Wer, so könnte man sogar fragen, hat die Hamas zur Hamas gemacht? Dies sind Versionen der zweiten Hälfte der Frage, jenes Teils, der uns dazu bringen kann, unsere Verantwortung zu übernehmen und unsere Menschlichkeit wiederzugewinnen, wenn wir dies tun.

Zum Originaltext von Patrick Lawrence. Die Übersetzung besorgte Christian Müller.

Siehe auch: «Mit Gewalt enteignet und aus Palästina vertrieben – der persönliche Rückblick eines Betroffenen»

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