Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

B’tselem berichtet über Israels systematische Politik des Missbrauchs und der Folter gegen palästinensische Gefangene

Von Helga Baumgarten

B’tselem begann die Arbeit an diesem Grauen erregenden Bericht „Willkommen in der Hölle“ im November 2023. In den wenigen Tagen des Waffenstillstandes wurden israelische Geiseln aus Gaza freigelassen, im Austausch gegen palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen. Die Welt hat sich seitdem ausschließlich auf die freigelassenen israelischen Frauen, Mädchen und Kinder konzentriert. Die palästinensischen Gefangenen wurden in guter kolonialistischer Manier vergessen. Die B’tselem Feldforscher in Gaza und Hebron sprachen mit den freigelassenen Frauen und Mädchen und waren schockiert über die Berichte, die sie hören mussten über die Misshandlungen, denen diese ausgesetzt waren.

Seitdem bekommt die Menschenrechtsorganisation ununterbrochen neue Berichte über Misshandlungen, immer dieselben Berichte über genau dieselben Foltermethoden in der Haft, egal in welchem Gefängnis und in welcher Gegend Palästinas. Sehr schnell war ein klares Muster erkennbar. Im März entschied sich B’tselem zu dem Projekt, das mit einem Riesenarbeitsaufwand und der Konzentration all ihrer Möglichkeiten innerhalb von 5 Monaten abgeschlossen war mit der Publikation des Berichtes Anfang August 2024.

Shai Parnes von B’tselem nahm sich die Zeit, um mir diese Arbeit im Detail zu erklären, als ich am Dienstag vergangene Woche (20. August) das Büro der Menschenrechtsorganisation in Talpiot in West-Jerusalem besuchte.

Auf der Basis von 55 Berichten von freigelassenen Palästinensern (30 aus der Westbank, 21 aus Gaza und 5 Palästinenser aus Israel, also israelische Bürger) zeichnete sich eine „systematische institutionalisierte Politik des kontinuierlichen Missbrauchs und der Folter aller palästinensischer Gefangener“ ab, über die „Willkommen in der Hölle“ detailliert berichtet. Selbst wenn man nur liest, was die Menschen durchmachen mussten, ist dies kaum erträglich.

Sami Khalili aus Nablus, seit 2003 in Haft im Ketziot Gefängnis im Negev, berichtet, wie einigermaßen „akzeptable“ Haftbedingungen ab Mitte Oktober unmenschlich gemacht wurden: “Wir hatten nur noch ein Ziel: Überleben.“ Und er erläutert: „Wir hörten Schreie (aus den Nachbarzellen)…es klang, als ob sie abgeschlachtet würden. So etwas hatten wir noch nie erlebt…. Nach drei Stunden … kamen die Wärter zu uns… sie holten uns aus der Zelle und schlugen uns… sie sperrten 11 von uns in eine Zelle für 4… aus den Fenstern hatten sie das Fensterglas entfernt… es wurde extrem kalt. … Es gab dreimal täglich einen „roll call“: wir mussten knien, Kopf unten, Hände auf den Kopf… wer den Kopf hob, wurde geschlagen…“ (S. 23-24). Die Zellen waren überfüllt und kein Sonnenlicht kam in den Raum. Die Häftlinge hatten keinen Hofgang, sie mussten einfach nur sitzen, permanent…

Thaer Halahleh aus dem Hebron Distrikt berichtet, dass er während der Haft (in Ofer und in Nafha) 191 Tage lang keine Sonne hatte sehen können. (S.29).

Mohammad Srour aus Ni’ilin bei Ramallah erzählt, dass er zwar einmal  – eine absolute Ausnahme – einem Richter vorgeführt worden sei. Zuvor hätten ihn aber die Wächter brutal zusammengeschlagen und gewarnt, absolut darüber zu schweigen. Als ihn sein Rechtsanwalt sah (alles lief nur über Video), wie sein Gesicht geschwollen und verletzt war, forderte dieser ihn auf, den Richter zu informieren. Der empfahl ihm lediglich, die Untersuchung durch einen Arzt zu beantragen. Danach wurde er von den Wächtern ein zweites Mal zusammengeschlagen, weil er vor Gericht frei geredet hatte (S.34). Die Gefangenen waren kontinuierlich und vollständig isoliert: weder das Rote Kreuz noch Rechtsanwälte durften kommen. Von Familienbesuch war nie die Rede.

Fouad Hasan, 45, aus dem Nablus-Distrikt erzählt, wie sie mit dem Bus zum Megiddo Gefängnis gebracht wurden. Als sie ausstiegen, wurden sie von den Wärtern begrüßt: „Willkommen in der Hölle“. (S.46).

Durchgängig wurde sexuelle Gewalt ausgeübt: die Genitalien der Gefangenen wurden mit Schlägen traktiert, mit Holz-und Metallteilen. Die Männer mussten sich nackt ausziehen und wurden, nachdem sie misshandelt worden waren, so anderen Gefangenen vorgeführt, um sie noch weiter zu demütigen. Ein Gefangener berichtet, wie einige Wärter ihn am 29. Oktober anal vergewaltigten durch brutale Einführung einer Karotte. (S.58-59).

Immer wieder mussten Amputationen durchgeführt werden wegen Folter und danach fehlender medizinischer Behandlung. Sufian Abu Saleh aus Khan Yunis berichtet, wie ihm infolge der Haft in Sde Teiman sein Bein amputiert wurde. Im April wurde er zurück nach Gaza abgeschoben und musste ohne jede Hilfe alleine durch den Übergang Kerem Shalom humpeln. Und medizinische Weiterbehandlung in Gaza gibt es natürlich nicht.

In einzelnen Kapiteln analysiert B’tselem, wie Israel in seinen Gefängnissen mit den Inhaftierten „umgeht“. Inzwischen muss man von einem Netz von Lagern (mehr als ein Dutzend!) ausgehen, deren alleiniges Ziel es ist, die Palästinenser zu missbrauchen. Menschen werden dorthin gebracht in der klaren Absicht, sie erbarmungslos massivem Schmerz und Leiden auszusetzen. Die Lager sind, um eine klare Sprache zu gebrauchen, Folter-Lager. Der Missbrauch reicht über willkürliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Demütigungen und Erniedrigungen, Zwang zum Hungern (die Gefangenen verlieren in wenigen Monaten bis zu 20 kg oder mehr, S.77), unhygienische Bedingungen, Schlafentzug, Verbot von religiösen Handlungen, Konfiszierung von Eigentum, privat oder kollektiv, bis hin zur Verweigerung adäquater medizinischer Behandlung.

Internationales Recht verbietet dies unmissverständlich, wie B’tselem im Detail und unter Bezug auf die einzelnen Rechtsquellen aufzeigt. B’tselem weist auf die zentrale Rolle von Sicherheitsminister Ben Gvir hin, der für die Politik in israelischen Gefängnissen verantwortlich ist. Unterstützt wird er dabei vom gesamten Kabinett und von Ministerpräsident Netanyahu. Spätestens seit dem Oktober 2023 wird diese Dehumanisierung der Palästinenser von Politikern propagiert und in der breiten Öffentlichkeit nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich positiv aufgenommen.

Eine besondere Rolle spielt Keter, die „IRF“, (initial reaction force), von Palästinensern schlicht „death squad“, also Todeskommandos genannt. IRF ist aktiv seit 2010, vor allem im Gefängnis Ketziot im Negev und in Ofer bei Beitunia, gleich südwestlich von Ramallah.

B’tselem berichtet von inzwischen mindestens 60 Toten in israelischer „Haft“, 48 davon aus Gaza, 12 aus der Westbank bzw. aus Israel. Der Bericht führt drei Todesfälle, besser Beispiele von Mord, in den Gefängnissen an:

Thaer Abu Asab, 38 Jahre alt, im Gefängnis Ketziot im Negev. (S.91)

Arafat Hamdan, 25, in Ofer. Er hatte Diabetes und wurde nicht behandelt. (S.94).

Mohammad as-Sabbar, 20, aus Dhahiriyya südlich von Hebron. Er litt unter einer Magenkrankheit und musste mit Diät leben, die ihm verweigert wurde. (S.99).

Der letzte Tote ist der 19jährige Zahir Raddad. Er wurde am 23. Juli in Tulkarm verhaftet und als menschlicher Schutzschild auf einem Armeejeep gefesselt. Er starb am 25. August infolge der Verletzungen, die er so erlitt. Vom 23. Juli an wurde er im Krankenhaus in Israel gefangen gehalten und sein Leichnam wurde der Familie bis dato nicht zur Beerdigung überstellt. (Information von ad-Damir, Menschenrechtsorganisation in Ramallah). Niemand wurde für diese Morde, denn anders kann man sie nicht bezeichnen, zur Verantwortung gezogen.

Oft vergessen wird die schlichte Tatsache, auf die der Bericht ausdrücklich hinweist:

Seit 1948, also seit der Nakba, seit der Gründung des Staates Israel, werden die Palästinenser aus politischen Gründen in Haft genommen, immer wieder zuerst und vor allem in „Administrativhaft“, also ohne Anklage und ohne reguläres Gerichtsverfahren. B’tselem geht von mindestens 800.000 Häftlingen seit 1967 aus, etwa 20 % der Gesamtbevölkerung!

Vor dem Oktober 2023 gab es schon 5.192 sogenannte „security“ (Sicherheits-) Gefangene,

1.319 davon saßen in Administrativhaft. Im Juli 2024, also vor Abschluss des Berichtes, war die Zahl auf 9.623 angestiegen, darunter 4.781 administrative Häftlinge. Seit dem Oktober sind Tausende von Menschen festgenommen, über wechselnde Perioden festgehalten und wieder freigelassen worden. Der entscheidende Grund, so das Prinzip, ist schlicht und einfach die Tatsache, dass diese Leute Palästinenser sind.

Der Bericht von B’tselem endet mit einem eindringlichen Appell:

„Wir appellieren an alle Nationen und an alle internationalen Institutionen und Organisationen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Grausamkeiten, mit denen das israelische Gefängnis-System die Palästinenser quält, sofort zu beenden, und das israelische Regime, das dieses System etabliert hat und in Gang hält, als ein Apartheid-Regime zu benennen, das ein Ende finden muss.“

Wer ist B’tselem?

B’tselem wurde 1989 als Menschenrechtsorganisation gegründet. Das Ziel der Organisation ist es, israelische Politik in den Besetzten Gebieten zu ändern, um die Menschenrechte der Palästinenser zu schützen.

Yuli Novak ist seit Juni 2023 Direktorin und Nachfolgerin von Hagai El-Ad, der seit 2014 die Organisation leitete. 38 Angestellte arbeiten bei B’tselem. Die Arbeit stützt sich zuerst und vor allem auf die Feldarbeit, die inzwischen Palästinenser ausführen unter extrem schwierigen Bedingungen: in der Westbank, in Ost-Jerusalem und in Gaza.

Finanzielle Unterstützung erhält B’tselem aus Europa und aus den USA sowie von Privatleuten. Das Budget beträgt mehr als 2 Millionen Dollar.

Aufsehen erregte der Bericht vom Januar 2021, in dem Israel, vom Fluss bis zum Meer („from the river to the sea“) als Apartheid-Regime analysiert wurde.

Hier der link zur Webseite von B’tselem: www.btselem.org

Link zu CNN report: Christina Amanpour Interview mit Yuli Novak, Direktor von B’tselem vom 24.August 2024: https://edition.cnn.com/2024/08/14/world/video/amanpour-israel-abuse-prison-btselem-yuli-novak

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Lasst Palästina in Frieden
Das reiche Erbe Jerusalems, von der Besatzung bedroht:
Khalidi Bücherei in der Altstadt von Jerusalem

Ein Bericht von Helga Baumgarten

1899 schrieb Yusuf Diya-aldeen al-Khalidi einen prophetisch anmutenden Brief an den französischen Oberrabbiner Zadok Kahn:

„… Es ist notwendig, … dass die zionistische Bewegung, im geographischen Sinn, stoppt… die Welt ist groß genug… es gibt immer noch unbewohnte Länder… Das wäre vielleicht die beste, die rationalste Lösung für die jüdische Frage. Aber, im Namen Gottes, lasst Palästina in Frieden.“

Zadok Kahn gab den Brief direkt weiter an seinen Freund Theodor Herzl. Herzl schrieb eine Antwort an Khalidi:

„…. Sie schreiben Zadok Kahn, die Juden sollten besser woanders hingehen. Das kann durchaus passieren, wenn wir sehen, dass die Türkei die enormen Vorteile, die ihnen unsere Bewegung bringt, nicht verstehen und würdigen will… Damit wird die Türkei aber die letzte Chance verlieren, ihre Finanzen zu regulieren und sich ökonomisch zu erholen. Ich schreibe Ihnen dies als wahrer Freund der Türken. Vergessen Sie das nicht!…!“

(Documents on Palestine I, PASSIA, S.14-15)

Der viel zu früh verstorbene Historiker Alexander Schölch (zuletzt Universität Erlangen) machte bei den Forschungen zu seinem für Palästina immens wichtigen Buch „Palästina im Umbruch 1856-1882“ (1986 – nach seinem Tod erschienen) „… einen historischen „Zufalls“-Fund: in der Khalidi-Bücherei entdeckte er bei der Suche nach relevanten Informationen in den Handschriften die Autobiographie von Yusuf al-Khalidi. Auf der Basis dieser außergewöhnlichen Biographie war er in der Lage, „den Aufstieg Jerusalems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen“. Denn für ihn verkörperte Khalidi eben diesen Aufstieg zu einem politischen und administrativen Zentrum und durch ihn konnte er einen besseren Einblick in die soziopolitische Transformation in Palästina gewinnen.

Die Khalidi Familie gehörte zur Oberschicht Jerusalems, zu „einer der beiden alteingesessenen Notabelnfamilien, … die sich im 19. Jahrhundert gegenseitig Rang und Einfluss streitig machten,“ den Khalidis und den Husseinis. Die Husseinis waren die größere und reichere Familie, die Khalidis stützten sich auf ihren institutionell verankerten Einfluss durch ihre über Jahrhunderte bekleideten zentralen Positionen im Shari’a Gericht.

Die Khalidis haben große Besitztümer in Jerusalem, vor allem in der Altstadt, aber auch außerhalb, zum Beispiel das Land, auf dem sich die St. George’s Schule (al-Mutran) befindet. 1828 ist der Besitz in der Altstadt in einen Familien-Waqf übergegangen. Nach islamischem Recht kann nichts davon verkauft werden, es muss für die Familie erhalten bleiben. Khadijeh al-Khalidi, eine der weitblickenden Frauen der Familie, beschloss 1870, dass eine Bibliothek etabliert werden sollte. 1900, nach dem Tod der Mutter, gründete ihr Sohn, Hajj Raghib al-Khalidi, die Bibliothek.

In der Bibliothek finden sich zuerst und vor allem Dokumente der Khalidi-Familie, die bis ins 11. Jahrhundert zurückgehen. Außerdem beherbergt sie einen regelrechten Schatz von Büchern, nicht zuletzt die Buchsammlung von Ruhi al-Khalidi, der lange Jahre in Frankreich lebte. 2021 wurden die gesammelten Werke von Ruhi al-Khalidi endlich publiziert

„Muhammad Ruhi al-Khalidi (1864-1913): Books, Articles, and Selected Manuscripts.”

Er ist Autor der wohl ersten Studie in Vergleichender Literaturwissenschaft auf Arabisch, vor allem aber hat er als erster palästinensischer Autor einen historischen Überblick über den Zionismus verfasst. Inzwischen liegt auch ein Katalog vor, den mein Kollege an der Universität Birzeit, Dr.Nazmi Ju’beh, verfasst und publiziert hat (2001). Die Bibliothek und die meisten Häuser aus dem Khalidi-Waqf finden wir in der „Bab al-Silsila“ Straße. Sie führt vom Jaffa-Tor (bab al-khalil) zum haram al-sharif, vorbei an einer Abzweigung, die zur Klagemauer führt. Von der Bibliothek und von allen Häusern auf der rechten Seite blickt man direkt auf die Klagemauer, al-buraq, wie sie auf Arabisch benannt und als religiöses Heiligtum verehrt wird.

Eben diese Nähe wurde für die Bibliothek und den Besitz der Khalidi-Familie ein zentrales Problem. Nach der Besetzung der Altstadt durch Israel im Junikrieg 1967 zerstörte die Armee das gesamte Maghrebi-Viertel, das direkt vor dem buraq lag, und vertrieb alle Bewohner, um freien Zugang und einen riesigen Gebets-Platz vor der Klagemauer zu schaffen. Die Armee besetzte das Dach der Bibliothek. Ende der 1970er Jahre wurde dort eine extremistische Jeschiva errichtet. (1)

 Die Jeschiva-Bewohner terrorisierten die Bibliothek mit dem klaren Ziel, sie zu konfiszieren und der Yeshiva einzuverleiben. Ein langer Rechtsstreit folgte, den die Familie letztendlich für sich entscheiden konnte.

Schräg gegenüber ist der Bibliotheks-Annex, in dem sich die meisten Manuskripte befinden. Die Bücher blieben derweil in der traditionellen Bibliothek, also an ihrem alten Ort.

Im Juni 2024 besetzten extremistische Siedler ein Haus der Khalidi Familie direkt neben der Bibliothek. Sie schlugen die Bewohner brutal zusammen. Auf der Grundlage von gefälschten Papieren versuchten sie, ihre Besitzansprüche gerichtlich durchzusetzen. Zum Glück hatten Angehörige der jüngeren Generation der Khalidi-Familie das gesamte Eigentum auch in Israel offiziell registrieren lassen. Nur auf dieser Grundlage mussten die Siedler das besetzte Haus räumen.

Ich besuchte die Bibliothek am 14. August. Einen Tag zuvor, wie mir der Bibliothekar Dr. Khader Salameh berichtete, hatten Siedler den Annex attackiert, alles unter Polizeischutz. Kurz bevor ich kam, durfte Dr. Salameh endlich wieder in den Annex und baute als erstes ein neues Schloss ein. Jetzt hofft er fürs Erste auf Ruhe.

Die „Khalidiyyeh“ steht symptomatisch für den israelischen Versuch, die gesamte Altstadt in ihren direkten Besitz zu bringen und die Palästinenser sukzessive zu vertreiben.

In ihrem Bericht „Der große Land-Raub“ berichten die israelischen NGOs Ir Amin und Bimkom von den neuesten Methoden, mit denen Israel und insbesondere die Stadt Jerusalem großflächig den palästinensischen Besitzer in Jerusalem Land wegnehmen. Dies geschieht durch einen weltweit üblichen Prozess der Land-Registrierung, „settlement of land title“, also die abschließende Klärung und Registrierung von Landbesitz. Während dieser Prozess international völlig normal ist, ist er im Falle des besetzten Ost-Jerusalem eine klare Verletzung geltenden internationalen Rechts. Israel beruft sich dabei auf die schlichte „Tatsache“, dass, aus israelischer Sicht, Jerusalem Teil des Staates Israel sei, dessen unteilbare Hauptstadt. Dies wird jedoch im internationalen Recht nicht anerkannt, auch nicht in Österreich oder Deutschland. Ir Amin und Bimkom zeigen in ihrem Bericht, wie Israel „Palästinenser enteignet, um damit mehr Land für jüdische Siedlungen zu bekommen und Israels Souveränität über Ost-Jerusalem zu zementieren“.

Der Prozess ist in ganz Jerusalem im Gange: von „Har Homa“ im Süden, direkt oberhalb von Beit Sahour, über den Ölberg bis nach Beithanina im Norden.

Ein letztes Beispiel ist das armenische Viertel. Siedlerorganisationen wollen Teile davon „übernehmen“. Zum Glück konnten die Armenier rechtzeitig legalen Widerspruch einlegen.

Dieser gesamte Prozess der Besitzregistrierung ist in keiner Weise transparent. Zum Teil wissen die palästinensischen Besitzer nicht, was Stadt und Staat dabei sind zu tun, hinter ihrem Rücken. Und sie können deshalb auch nicht rechtzeitig reagieren, was im Falle des armenischen Viertels wenigstens noch möglich war.

Das Problem, wie Ir Amin und Bimkom in ihrem Bericht aufzeigen, ist die schlichte Tatsache, dass solche Prozesse der Landregistrierung, sei es als Staatseigentum, als Eigentum von Siedlerorganisationen oder als Privateigentum, endgültig und selbst nach Beendigung der Besatzung nicht mehr umkehrbar sind.

Abschließend möchte ich zurückgehen zur Erfahrung der Khalidi-Bibliothek mit Stadt und Siedlern. Was immer die palästinensischen Bewohner (also aus israelischer Sicht die „nicht-jüdischen Bewohner) der Altstadt versuchen: gegen sie steht die geballte Macht der Besatzung. Und wenn legale Mittel nicht mehr nützen, kommt einfach eine militärische Anordnung und der israelische Siedlerkolonialismus hat wieder einmal gewonnen.

(1) Jeshivas sind traditionelle jüdische Erziehungsinstitutionen. Dort wird die rabbinische Literatur, also v.a. Talmud und halacha (jüdisches Recht) studiert, außerdem Torah und jüdische Philosophie.

Die Fotos – mit Ausnahme jenes des al-buraq/Klagemauer – stammen von Darwish al Kurd, dem Sohn von Helga Baumgarten und Mustafa al Kurd.

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Tel Avivs Tmuna Theater erlebte eine Sensation:
Das neue Stück von Einat Weizman, „Matzpen-Komitee in Sachen Militärregierung“, wurde mit zwei Auffüh-
rungen angekündigt: Beide waren innerhalb von 24 Stunden vollständig

Wer war/ist Matzpen?


Der ursprüngliche Name ist „Israelische Sozialistische Organisation“. Gegründet wurde sie 1962. Bekannt
wurde sie aber unter dem Namen ihrer Zeitschrift „Matzpen“, Kompass auf Deutsch.
Einer der noch lebenden Gründer – dazu gehörten Akiva Orr, Oded Pilavsky und Yirmiyahu Kaplan – und
wohl der letzte aus dieser allerersten Gruppe, ist Moshe Machover, der seit 1968 in London lebt und arbeitet.
Aktuell meldet er sich immer wieder zu Wort mit tiefschürfenden Analysen. In einem Interview mit dem
Magazin +972 zur Geschichte der Matzpen nennt er als deren Ziel die Gründung einer unabhängigen linken
Organisation, unabhängig vor allem von den Machtinteressen der Sowjetunion. Die jungen Aktivisten inter-
pretierten die Lage vor Ort als einen kolonialen Konflikt zwischen dem Zionismus und den unterdrückten
Palästinensern, deren Land geraubt und die ab 1947 und vor allem 1948 in der Mehrzahl vertrieben worden
waren.

Schon früh schlossen sich sowohl Mizrahi Aktivisten an, wie Haim Hanegbi, dessen Großvater sephardischer
Rabbiner in Hebron war, als auch palästinensische Marxisten wie Jabra Nicola aus Haifa oder Ahmed Mas-
sarweh aus Ar’ara.

„Bekannt“ wurde Matzpen in Israel durch eine bezahlte Anzeige am 22 .September 1967 in Haaretz:
„Unser Recht, uns vor einer Vernichtung zu verteidigen, berechtigt uns nicht, andere zu unterdrücken. Besat-
zung führt zur Fremdherrschaft. Fremdherrschaft führt zu Widerstand. Widerstand führt zu Unterdrückung.
Unterdrückung führt zu Terror und Gegenterror. Die Opfer des Terrors sind in der Regel unschuldige Men-
schen. Das Behalten der Besetzten Gebiete wird uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln.
Verlassen wir die besetzten Gebiete sofort.“

Die Unterzeichner waren Moshe Machover, Haim Hanegbi, Shimon Tzabar, David Ehrenfeld (der Rote Mil-
lionär), Dan Omer, Rafi Zichroni, Shneur Sherman, Uri Lifshitz, Yehuda Rosenstrauch, Raif Chana Elias, Eli
Aminov und Arie Bober.

Schon vor der Anzeige hatte Haim Hanegbi mit anderen Genossen in Tel Aviv überall die Parole „Hal’a Ha-
Kibbush“, also: Nieder mit der Besatzung, – eine Parole, die von ihm stammt – aufgemalt.

Der Skandal war perfekt! In eine Stimmung von ultranationalistischen Feiern über den Sieg von 1967 kam
diese vernichtende Kritik, die sich als wahrer Kassandra-Ruf herausstellte. Machover meint rückblickend,
dass ein Artikel, der im Mai, noch vor dem 67er Krieg, in der Zeitschrift Matzpen erschienen war, viel wichti-
ger gewesen sei.

Darin hätten sie die de-Zionisierung von Israel gefordert, die Abschaffung des Rückkehrgesetzes, ja die Ab-
schaffung aller Gesetze, die Nicht-Juden diskriminieren. Gleichzeitig hätten sie auf dem Recht zur Rückkehr
für palästinensische Flüchtlinge bestanden, wie es ja durch die Vereinten Nationen 1948 beschlossen worden
war.

Gleichzeitig hätten sie eine klare Unterscheidung zwischen dem Siedlerkolonialismus in Südafrika und in
Algerien einerseits, in Israel andererseits getroffen: Israel habe sich von Anfang an auf Arbeit durch jüdische
Einwanderer gestützt und sei deshalb von palästinensischer Arbeit nicht abhängig geworden. Aus diesem
Grund habe Matzpen auch die nationale Befreiung der hebräischen Massen durch die Integration beider Na-
tionen, der hebräischen und der palästinensischen, in eine „Sozialistische Nahöstliche Union“ als die einzige
Lösung betrachtet.

Diese Analyse sei, so Machover, nach wie vor korrekt. Entscheidend sei, dass der Schwerpunkt auf Kolonia-
lismus liege. Denn die zionistische Kolo

historisch in den USA geschehen sei.
Ich hatte die Chance, die letzte Probe vor den zwei Aufführungen in Tel Aviv mitzuerleben und mit einigen der Aktivisten zu
sprechen.
Lea Tsemel, Rechtsanwältin (Ihr Mann, Michel Warshawsky, konnte wegen schwerer Krankheit nicht mitkommen), ist eine langjährige Freundin. Sie hat meinen verstor-
benen Mann, Mustafa al-Kurd, verteidigt, als er 1976 verhaftet wurde wegen seiner
politischen Lieder und seiner Mitarbeit im politischen Theater von Ballalin. Sie ermög lichte es schließlich, dass er nach seinem
Exil von 1976 bis 1983 bzw. 1985 wieder zurück ins Land durfte.

The Socialist Organization in Israel – better known by the
name of its paper, Matzpen – was founded in 1962 by a group
that formed around four members who had been expelled
from the Israeli Communist Party (ICP), having challenged the
ICP’s lack of internal democracy and its unquestioning allegi-
ance to the Soviet Union. The organization is committed to a
socialist revolution based on councils elected by the workers, is
opposed to Zionism and calls for recognition of the Palestini-
an people’s national rights. In its early years, the main activity
of the group’s members was aimed at creating an independent
workers’ trade union outside the ambit of the Histadrut.


Weitere Informationen:
https://matzpen.org/english/about-matzpen/

Zusammen mit einer weiteren Aktivistin fuhren wir in unserem Auto nach Tel Aviv und auf der Fahrt über-
setzte mir Lea große Teile des Theaterstücks.
Ehud Ein Gil, bis vor kurzem noch Journalist in Haaretz, versetzte mich in das absolute Staunen. Noch in der
aktiven Zeit von Matzpen brachte er sich selbst Arabisch bei. Als wir miteinander sprachen und er erfuhr,
dass ich mit Mustafa verheiratet war, rezitierte er aus dem Kopf eines der ersten Lieder von Mustafa: Beit
Iskariya.

Dort heißt es:
In Beit Eskarya, in der Nähe von Akraba…
Sie haben in mein Land ihren Hass eingepflügt …
Sie haben ihr Gift dort gesät!
Sie haben alle vertrieben und mein
Hab und Gut aus Bab-El-Silsileh weggeworfen.
Sie haben die Liebe aus der Tür geworfen,
einen Nagel in meine Wunde getrieben …
So bin ich ein Wanderer geworden!
Mein Land ruft mich in seiner Qual …
Ohne meinen Schweiß, meine Spitzhacke und meine Sichel …
Ist es verlassen und staubig geworden!
Ich wurde von der Erde entwurzelt, um Tag und Nacht in einer
Fabrik zu arbeiten …
Immer und immer wieder die gleiche Arbeit zu machen
Sohn von Turmus-Ayya, von Yatta, von Deir El-Balah und
von Silwan…
Behalte dein Land und gib niemals auf !
Bauern waren wir…
Bauern bleiben wir!
Stärker in diesem Boden verwurzelt als die Neuankömmlinge
gehört Palästina uns …

Der erste israelische Wehrdienstverweigerer, Giora Neumann, stand auf der Bühne. Und auch Udi Adiv gehörte zu den Schauspielern. Er war einer der radikalsten Matzpen-Aktivisten nach 1967. Angeklagt wegen Spionage für Syrien, verbrachte er 12 Jahre in israelischer Haft. Inzwischen arbeitet er als Politologe und blickt sehr kritisch/ selbstkritisch auf die ersten Jahre nach 67 zurück. Schließlich durfte ich zwei der palästinensischen Matzpen-Aktivisten kennenlernen.

Der eine war Ahmad Massarweh, 85, aus Ar’aba. Er wurde bekannt durch den Dokumentarfilm aus dem Jahre 1966: “Ich, Ahmad”. Der Film zeigt an seinem Beispiel dasLeben palästinensischer Arbeiter aus dem Norden, die versuchten, sich mit Tagelöhner – Arbeit in Tel Aviv durchzuschlagen. Schon zuvor, als Schüler, hatte er am eigenen Leib die schlimmsten Erfahrungen mit Hilfsarbeit bei Israelis und gleichzeitig ständiger Angst vor Verhaftungen und Prügel durch die Armee durchstehen müssen.

Der andere ist Ali al-Azhari aus dem 1948 zerstörten Dorf Safuriyeh im
Norden von Galiläa, der inzwischen in Jaffa lebt. Bis heute darf er sein
Geburtsdorf nicht besuchen: „Zutritt verboten“ steht am Eingang zu
den Überresten des Ortes. In einem ausführlichen Gespräch erklärt mir
Einat Weizman das Ziel des Stücks, das Ziel der gesamten Produktion. Sie
wollte für ein israelisches Publikum Ikonen der Geschichte, Ikonen des
antizionistischen Widerstandes, auf die Bühne stellen.
Sie verlesen im Dokumentarstück die Texte des „Komitees in Sachen
Militärherrschaft“. Diese Militärherrschaft wurde von 1948-1966 den in
Israel verbliebenen Palästinensern aufoktroyiert. Die damit gewonnenen
Erfahrungen bildeten nach 1967 eine willkommene Grundlage für die
neu errichtete Militärherrschaft über die 1967 besetzten Gebiete West-
bank, Ost-Jerusalem und Gaza-Streifen. Die Frage stellt sich, ob sie aktuell ein weiteres Mal Gaza aufoktroyiert werden soll, wenn es denn nach Netanyahu geht?
Damit wird das Stück zu einer beißenden Satire: die einzigen unerbittlichen Kritiker der Militärherrschaft, der Unterdrückung, überhaupt des Systems des Siedlerkolonialismus über die Palästinenser, lesen, was die Unterdrücker, die „Herren“ von Militärherrschaft und Siedlerkolonialismus, vorbringen.

Wer ist Einat Weizman?


Sie war eine berühmte Schauspielerin in Israel, sowohl in Film als auch im
Fernsehen. Gleichzeitig war sie aber auch eine linke und kritische Aktivistin. Israels Krieg 2014 gegen Gaza brachte bei ihr das Fass zum Überlaufen. Sie stellte ein Bild von sich mit palästinensischer Fahne und der Aufschrift „Free Palestine“ auf die „sozialen Medien“ (social media).
Das war das Ende ihrer Karriere. Man machte ihr noch ein letztes Angebot:
Entschuldige Dich und wir sehen, was wir noch retten können. Dazu war sie aber nicht bereit. In einer neuen Karriere inszenierte sie 2015 ihr erstes Theaterstück. Seit dem 7. Oktober, so beklagt sie sich, habe sie viele Freunde, auch sehr gute alte Freunde, verloren. Und sie verliert ihren letzten bezahlten Job, in dem sie Schauspielerunterricht gegeben hatte. Inzwischen fühlt sie sich entfremdet, leidet unter „ideologischer Einsamkeit“, sei „nicht mehr daheim“. Die radikale Linke in Israel, zu der sie sich zählt, scheint in ihren Augen verloren. Was sie brauchen, so meint sie, seien die Ikonen des Widerstandes, die sie als regelrechten kulturellen Schatz sieht, der präsentiert und erhalten werden muss.

Das war der Ausgangspunkt für die neue Theaterproduktion.
Sie kannte schon einige der alten Matzpen-Aktivisten. Sie mussten, als erste Generation des antizionistischen Widerstandes, auf die Bühne gestellt werden.

Die Zukunft dieses Widerstandes sind die neun Trommlerinnen und Trommler, die neue antizionistische Linke. Damit zeigt sie zwei antizionistische Generationen auf der Bühne.
Mit ihren 50 Jahren betrachtet sie sich gleichsam als Verbindungsglied zwischen beiden: Vergangenheit und Zukunft.

Die historischen Matzpen-Aktivistinnen und Aktivisten lesen auf der Bühne die Worte der mächtigen Unterdrücker der Palästinenser in Israel, die – man sollte das immer von Neuem wiederholen – 1948 unter eine brutale und menschenverachtende Militärherrschaft gestellt wurden, die bis 1966 andauerte.
Diese schlichte Tatsache war weitgehend unbekannt in Israel bzw. die Menschen wollten nichts davon wissen. Bis zur Konzeption des Theaterstücks wussten selbst Einats Kinder nichts davon.

Adam Raz, Historiker im Akevot Institut in Haifa, rettete das Dokumentar-Material für das Theaterstück aus israelischen Archiven. Die Protokolle, die im Stück vorgetragen wurden, waren bis dahin nicht bekannt. Raz brachte alles an die Öffentlichkeit, was nur möglich war durch jahrelange Kämpfe. Es handelt sich um etwa 1.000 Seiten. Im sogenannten „Pinhas-Komitee“ wollte der damalige israelische Ministerpräsident Ben Gurion überprüfen, inwieweit die Militärherrschaft über die Palästinenser in Israel, die „israelischen Araber“, weiterhin notwendig und was ihr Ziel war.

Immer noch liegen viel Dokumente unzugänglich in den Archiven, wie mir Raz erklärt. Das betrifft vor allem das Archiv der Armee. Dieses besteht wohl aus 12 Millionen Akten. Nur ½ bis 1 %, also etwa 60.000 Akten, sind bis dato zugänglich, und auch das immer nur nach langen Kämpfen.

Was die Treffen des Pinhas-Komitees betrifft, so konnte Raz zumindest die wichtigsten Dokumente zur Behandlung der Palästinenser in Israel – sie waren immerhin israelische Staatsbürger! – bekommen. Nach wie vor fehlen aber die Stellungnahmen des Shabak-Chefs, des Inland-Geheimdienstes, sowie des Polizeichefs.
Aber das offengelegte Material, die Basis des Theaterstücks, zeigt uns die ununterbrochene nakba für die Palästinenser seit 1948. Nakba heißt Landenteignung, Vertreibung, Unterdrückung, ein Prozess, der nicht nur für die Palästinenser im israelischen Staatsgebiet von 1948, sondern auch in den 1967 besetzten Gebieten Tag für Tag die Realität der Menschen bestimmt.

Davon, so auch Adam Raz, genau wie Einat Weizman, sei praktisch nichts bekannt in der israelischen Öffentlichkeit. Die meisten Israelis betrachteten vielmehr die Jahre von 1948 bis 1967, also noch vor dem 67er Krieg und der Besatzung über Ost-Jerusalem, Westbank und Gazastreifen, als die goldenen Jahre Israels und feierten sie als die Jahre einer echten Demokratie, der „einzigen Demokratie in der Region“.
Die Realität bestand jedoch aus einem Apartheidsystem wie in Südafrika.
Auch für Adam Raz waren die Matzpen-Aktivisten die ersten und einzigen wirklich radikalen Kritiker dieses Systems.

Worin bestand dieses System? Im Komitee wird tacheles geredet:
Die Araber werden z.B. schlicht und einfach als Esel betrachtet. Ben Gurion sagt im Klartext: Die Araber lieben es, wenn wir sie als Esel behandeln.

Durchgängig wird argumentiert, dass man keinem Palästinenser glauben oder trauen könne. Ob gute oder böse Araber, es gäbe keinen Unterschied. Alle lehnten Israel ab, die einen aktiv, die anderen passiv.
Außerdem müsse Israel sich schützen vor der arabischen Gefahr, einer regelrechten 5. Kolonne, gesteuert von außen. Araber könnten, wenn es die Militärherrschaft nicht mehr gäbe, jederzeit – so ein Argument – nach Tel Aviv und dort eine Bombe legen. Israel könnte das nicht verhindern. Allein schon deshalb sei die Militärherrschaft unabdingbar.

Ökonomische Strangulierung wurde als notwendig betrachtet zur Kontrolle über die Araber. Man wollte jede ökonomische Entwicklung und Eigenständigkeit verhindern. Die regelrechte Verdummung der Menschen war ein weiteres Ziel. Bildungsmöglichkeiten sollten auf ein Minimum reduziert werden. Überhaupt sollte den Palästinensern das Leben so unerträglich gemacht werden, dass sie sich selbst für Auswanderung entschieden.
Wichtig schließlich die Mitteilung des Militärgouverneurs: Wir haben einen File, eine Akte, über jeden Palästinenser in Israel. Diese Situation besteht seit 1967 auch in der Westbank und im Gazastreifen.

Adam Raz spricht deshalb – er weiß, dass ich aus Deutschland komme – von einem „israelischen Stasi“.
Entscheidend war jedoch die Landfrage: die vertriebenen Palästinenser, von denen viele als „Binnenflüchtlinge“ bzw. präziser „Binnenvertriebene“ im Land waren, sollten mit allen Mitteln daran gehindert werden, in ihre Dörfer zurückzukehren. Man wollte verhindern, dass sie ihre Dörfer wiederaufbauten und dass sie ihr Land wieder bebauten.

Israel wollte zuerst und vor allem das Land und es wollte absolut keine Palästinenser auf diesem Land.
In der Kommission wurden auch palästinensische Knesset-Abgeordnete gehört, wie z.B. Taufiq Tubi von der Kommunistischen Partei (erst Maki, dann Rakah und zuletzt Hadash). Er schleuderte den „Herren des Landes“ die Wahrheit ins Gesicht: es gehe ihnen nicht um Sicherheit, es gehe einzig und allein um Land. Ihr wollt unser Land und Ihr wollt es ohne einen einzigen Palästinenser, so seine klare Aussage.

Wichtig zu bemerken: Die Palästinenser, die aussagen durften vor der Kommission, durften jeweils nur kurz reden und mussten dann den Raum wieder verlassen.

Im Stück hat Einat Weizman das so gelöst, dass Ahmed Massarweh und Ali al-Azhari, sobald sie ihren Beitrag beendet haben, ihren Stuhl umdrehen müssen und nur noch von hinten zu sehen sind.
Wie Einat Weizman meint auch Adam Raz, dass die Botschaft durch ein Doku-Drama besser an die israelische Öffentlichkeit gelangen könne als durch noch so viele Bücher.

Unser Gespräch schließt Einat Weizman mit einer großen Hoffnung:
Wir haben nicht nur die Ikonen von Matzpen, wir haben auch eine Zukunft mit den jungen antizionistischen Aktivistinnen und Aktivisten. Sie verteidigen die Palästinenser durch ihre physische Anwesenheit und ihren physischen Einsatz im Jordantal und in der Westbank gegen Siedler und Armee. Dabei werden sie immer öfter genau wie die Palästinenser zusammengeschlagen.

Und wie geht es weiter? Zumindest mit dem Theaterstück “Matzpen-Komitee in Sachen Militärregierung“? Alle hoffen auf weitere Aufführungen in naher Zukunft und als ersten Schritt dahin, dass das Problem der Finanzierung gelöst wird.

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Von Helga Baumgarten

Gaza, Jerusalem, Westbank: nur Horrornachrichten, Völkermord, Tod und Zerstörung, ethnische Säuberungen, Siedlergewalt… man weiß nicht, wo man anfangen und wo man aufhören muss.

Aber jenseits des Horrors gibt es den Alltag, unspektakulär einerseits, unerträglich und unmenschlich andererseits. Davon soll heute die Rede sein.

Die Universität Birzeit liegt etwa eine halbe Stunde nordöstlich von Jerusalem. Wie kommt man also von Jerusalem, Jerusalem-Ost (also das seit 1967 besetzte Ost-Jerusalem) nach Birzeit? Vorbei sind die Zeiten, als Professoren und Studenten aus Ost-Jerusalem auf direktem Weg, also über Ramallah und von dort nach Birzeit, zu ihrer Universität fahren konnten, entweder mit dem Privatauto oder mit den „Öffentlichen“, d.h. Bus oder Sammeltaxi. Seit dem Beginn des Osloer-Prozesses muss man ständig Armee-Sperren passieren. Einige davon sind in Permanenz da, wie z.B. vor dem Flüchtlingslager Kalandia nördlich von Jerusalem: jeder, der aus Jerusalem Richtung Ramallah oder aus Ramallah Richtung Jerusalem möchte, muss hier durch. Inzwischen kann das Stunden dauern und manchmal gibt es überhaupt kein Durchkommen, weil die Armee beschließt, die Sperre ganz zuzumachen.

Alternativ gibt es längere und kürzere Umwege, um nach Birzeit zu kommen. Der längere Umweg, den ich mit vielen Kollegen vorziehe, ist gut und gerne 15 km länger. Wenn man Glück hat, kommt man ungehindert, also ohne Armee-Sperren und Kontrollen, nach Birzeit: man fährt raus aus Jerusalem Richtung Osten, dann wendet man Richtung Norden, auf der Straße, die eigentlich nach Nablus führt und gleichzeitig Jerusalem mit zahllosen israelischen kolonialistischen Siedlungen verbindet. Wenige Kilometer nach der Siedlung Ofra biegt man wieder Richtung Westen und kommt dann aus nordöstlicher Richtung in die Stadt Birzeit und von dort zu der etwas außerhalb gelegenen Universität.

Aber man kann auch Pech haben, wenn nämlich die Armee beschließt, „fliegende“ Sperren zu errichten: das kann einen sehr viel Zeit kosten. Wenn man also einen wichtigen Termin hat: eine Lehrveranstaltung, eine Prüfung, einen Termin bei der Administration, empfiehlt es sich, für eine Strecke, die üblicherweise in einer Stunde zu bewältigen ist, drei Stunden einzukalkulieren. Und selbst das klappt immer öfter nicht: wenn nämlich die Armee schlicht die Sperren nach Birzeit zumacht: eine rote Schranke wird quer über die Straße runtergelassen, zwei Soldaten davor postiert: und das war es dann.

Israel argumentiert, dies alles aus Sicherheitsgründen notwendig. Unklar ist, um wessen Sicherheit es dabei geht: wahrscheinlich zuerst und vor allem die Sicherheit der kolonialistischen Siedler, die meinen, die Westbank gehöre alleine ihnen. Aber meist geht es gar nicht um Sicherheit, sondern einzig und allein um Schikane: Schikane gegen die Palästinenser. Immer wieder steht man ungeduldig vor einer fliegenden Armeesperre: 15 Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde… und dann ziehen die Soldaten plötzlich unvermittelt ab und alle können ungehindert weiterfahren. Man fragt sich dann natürlich: was ist denn jetzt plötzlich aus der Sicherheit geworden?

Gestern fuhr ich gegen 9.30 los aus Jerusalem. Nur wenige Kilometer Richtung Norden, am ersten Kreisel, von dem aus man zu einer Siedlung abbiegen kann, stand die Armee und kontrollierte alle Autos. Autos mit Westbank-Nummernschildern (anders als die gelben Nummernschilder aus Israel bzw. Jerusalem, inklusive Jerusalem-Ost) mussten umdrehen, zurück Richtung Westbank. Alle Zufahrtsstraßen aus palästinensischen Dörfern waren abgeriegelt. Als ich weiter Richtung Birzeit fuhr, standen rechts und links der Straße endlos viele Autos mit Westbank Nummern, die warteten, wie sich die Lage entwickeln würde.

Als ich nachmittags gegen 15 Uhr zurückkam, gab es keine Armeesperren mehr, keine Autos warteten mehr auf der Seite und alle Zufahrtsstraßen waren wieder offen. Die Herren des Landes hatten ihren Sklaven wieder einmal bewiesen, dass sie Sklaven sind.

Dieselbe Erfahrung müssen Menschen machen, die aus Jerusalem nach Bethlehem möchten und umgekehrt. Entweder sucht man einen Umweg und hofft, dass der frei passierbar ist, oder man konfrontiert die zentrale Armee-Sperre am Ausgang von Bethlehem, direkt an der Mauer: anders als Birzeit darf sich Bethlehem einer Mauer rühmen! Jerusalemer, die z.B. aus den verschiedensten Gründen eine Wohnung in Bethlehem haben, aber täglich hin-und herfahren müssen: die Kinder zur Schule, die Eltern zur Arbeit, helfen sich aus, indem ein Auto auf der Bethlehemer Seite bleibt, ein anderes auf der Jerusalemer Seite. Den Armee-Kontrollpunkt passiert man dann zu Fuß, was meist schneller geht. Aber das ist lediglich eine Möglichkeit für die gutsituierten Palästinenser, die tatsächlich zwei Autos haben.

Religiöse Feste sind inzwischen zum jährlichen Alptraum für alle Gläubigen geworden, egal ob Christen oder Muslime. Die Armee entscheidet, wer aus der Westbank nach Jerusalem darf. An Ostern dieses Jahr war es praktisch unmöglich für Christen aus der Westbank, an den Osterfeierlichkeiten in Jerusalem teilzunehmen. Muslime, die während des Ramadan in Jerusalem auf dem haram al-sharif beten wollten, durften dies nur, wenn sie über 50 (Frauen) bzw. über 60 (Männer) waren. Und selbst darauf konnte man sich nicht verlassen.

Jede Fahrt von Jerusalem Richtung Norden: Nablus oder Jenin, ist so gut wie unmöglich bzw. ein einziges unkalkulierbares Abenteuer. Dasselbe gilt für eine Fahrt nach Hebron oder weiter südlich. Man ist mit endlosen Armee-Sperren konfrontiert und Übergriffe von Siedlern finden immer öfter statt.

Finanzminister Smotrich, selbst ein Siedler, der dabei ist, die Westbank in einer Art verdecktem Staatsstreich zu annektieren, lässt inzwischen überall neue Straßen bauen, damit Siedler nach Jerusalem und nach Israel fahren können auf Straßen, auf denen keine Palästinenser fahren: also offene Apartheid: Straßen für die Sklaven, Straßen für die Herren.

Große Highways, fast wie Autobahnen, für die Herren, kleine, enge Straßen für die Sklaven.

Und die Welt schaut zu.

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Ein Bericht von Helga Baumgarten

Seit Oktober warten fünf Babys aus Gaza auf die Mutter: die Drillinge Najwa, Nijma und Nur sind inzwischen fast ein Jahr alt. Die Mutter hätte sie Anfang Oktober nach Gaza holen sollen, nachdem die Geburt gut verlaufen war im Maqassed Krankenhaus in Jerusalem. Sie wurde vertröstet auf die Zeit nach Sukkot (dem Laubhüttenfest). Aber ehe Sukkot zu Ende war, kam der 7. Oktober. Die Mutter sitzt seitdem fest in Gaza, die Babys werden in Jerusalem versorgt. Warum war die Mutter in Gaza und ihre neugeborenen Drillinge in Jerusalem? Nur der menschenverachtende Umgang der israelischen Besatzung mit Menschen aus Gaza (gleichermaßen mit Menschen aus der Westbank) führte dazu.

Als die hochschwangere Mutter nach Jerusalem kam, um ihre ersten Kinder zur Welt zu bringen, kam sie mit einer Genehmigung als Patientin. Sofort nach der Geburt ihrer Kinder transformierte sie sich für die israelische Besatzung in eine „Begleiterin“. Um als Begleiterin in Jerusalem bleiben zu dürfen, braucht sie eine neue und andere Genehmigung. Diese kann sie aber nur im Gaza-Streifen beantragen und bekommen. Also musste sie die neugeborenen Babys in Jerusalem lassen, um möglichst schnell ihre Genehmigung zu bekommen.

Sa’ida wurde als Problemkind von ihrer Mutter im Maqassed Krankenhaus geboren. Nach der Geburt waren Operationen notwendig, damit Sa’ida gesund heranwachsen könnte. Inzwischen ist Sa’ida gesund, da die Operationen erfolgreich waren. Wie im Fall der Mutter der Drillinge musste auch ihre Mutter nach der Geburt nach Gaza, um eine Genehmigung als Begleiterin ihres Babys zu beantragen und, so die Hoffnung, zu bekommen.

Anas schließlich, das vierte Baby, ist immer noch schwer krank, auch nach mehreren äußerst komplizierten Operationen. Er ist einer von Vierlingen, die seine Mutter in Jerusalem auf die Welt brachte. Die Mutter kehrte mit drei ihrer Babys nach Gaza zurück. Dort warteten ihre anderen Kinder auf sie: zwei Zwillingspaare, die noch sehr klein sind. Ihre Situation unterscheidet sich also von den Eltern der Drillinge und den Eltern von Sa’ida. Sie kann Anas erst nach Gaza holen, wenn dieser entsetzliche Krieg zu Ende ist. Vor allem aber ist es notwendig, dass er, nach weiteren noch notwendigen Operationen, hoffentlich einigermaßen gesund nach Gaza zurückkehren kann.

Wie geht das Krankenhaus in Jerusalem mit dieser Situation um: Babys, die ohne Mutter sind, und trotzdem versorgt werden müssen. Babys, die das Recht haben, liebevoll umsorgt von Mutter und Familie, aufzuwachsen.

Dem Krankenhaus, den Ärzten und der Verwaltung gebührt Hochachtung und Dank. Die Babys erhielten ein eigenes Zimmer, das „Gaza-Zimmer“, in dem sie inzwischen leben.

Fünf Gitterbetten für Babys, vier Baby-Lauflernhilfen, eine Baby-Schale, in der ein Baby leicht geschaukelt werden kann, Baby-Spielzeug, eine Spielmatte für das Sitzen und hoffentlich bald Krabbeln am Boden: all das durfte ich gestern bewundern bei meinem Besuch im Krankenhaus.

Die Babys werden von einer oder mehreren Krankenschwestern versorgt. Der Leiter der Abteilung und eine junge Ärztin sind verantwortlich für die medizinische Betreuung, die offensichtlich ausgezeichnet ist. Eine Sozialarbeiterin kommt regelmäßig vorbei. Schließlich besucht eine gute Freundin von mir die Kleinen täglich für mehrere Stunden und spielt mit ihnen. Jeden Tag gibt es einen Anruf bei der Mutter der Babys. Ich durfte miterleben, wie freudig, ja geradezu begeistert, Najwa, Nijma und Nur auf die Stimme und das Bild ihrer Mama auf dem Mobil-Telefon reagierten. Ein Strahlen breitete sich aus auf den kleinen Gesichtern, sie griffen nach dem Bild der Mutter… aber in Minuten war alles vorbei. Oft gibt es leider keine Telefonverbindung nach Gaza und der Kontakt kann nicht hergestellt werden.

Heute geht es zuerst und vor allem darum, der jungen Mutter von Najwa, Nijma und Nur die Ausreise aus Gaza und nach Jerusalem zu ermöglichen. Dasselbe gilt für die Mutter bzw. die Tante von Sa’ida. Ein Versuch läuft über die Weltgesundheitsorganisation (WHO: World Health Organization), die bereit ist, alles zu unternehmen, damit die Mütter endlich wieder ihre Babys in den Arm schließen können. Sie erklärte sich auch bereit, sämtliche Kosten dafür zu übernehmen, bis der Krieg beendet und der Wahnsinn in Gaza aufhört, damit Mutter und Babys sicher nach Gaza zurückkehren können. Weitere Unterstützung kommt von MAP, Medical Aid for Palestine.

Es sollte doch wohl ein Leichtes sein, dass die Regierungen in Berlin und Wien intensiven Druck auf Israel ausüben, damit die Mütter ausreisen dürfen: so schnell es irgend möglich ist!

Das Schicksal der fünf Babys trägt in sich einen unlösbaren Widerspruch. Hier in Jerusalem und im Maqassed-Krankenhaus werden die Babys bestens versorgt, sowohl medizinisch als auch mit Nahrung. Sie schauen gesund aus und bestens ernährt: wie eben Babys in diesem Alter aussehen sollten.

Die Lage in Gaza ist dagegen nur noch katastrophal und traumatisch zu nennen: Vor allem Babys unter einem Jahr und Kleinkinder sind am stärksten von der um sich greifenden Hungersnot betroffen.

Die UN in Genf erklärte gerade erst am 9. Juli:

„Wir erklären, dass Israels absichtliche und gezielte Aushungerungskampagne gegen das palästinensische Volk eine Form völkermörderischer Gewalt ist, in deren Folge überall in Gaza Hunger ausbrach. Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, die Bereitstellung von humanitärer Hilfe auf dem Landweg und mit welchen Mitteln auch immer vordringlich zu unterstützen, die israelische Belagerung zu beenden und einen Waffenstillstand durchzusetzen.“

Ärzte in Gaza berichten von alarmierenden Trends von immer mehr Frühgeburten und untergewichtigen Babys. Das sind offensichtlich klare Indikatoren von schwerer Unterernährung, verschärft durch Stress, Angst und Erschöpfung, zuerst und vor allem bei schwangeren Frauen. Dazu kommt das Problem, dass es schlicht kaum Nahrungsergänzungsmittel für schwangere oder für stillende Frauen gibt. Laut einem aktuellen UN-Bericht, so reliefweb (OCHA) am 17. Juli, gibt es massive gesundheitliche Probleme für etwa 155.000 schwangere und stillende Frauen, weil sie keinen Zugang zur Betreuung vor und nach der Geburt haben. Es gibt keine Transportmöglichkeiten oder diese sind zu teuer, es gibt nicht genug Krankenwagen und viele der Krankenhäuser, selbst wenn sie erreicht werden können, sind nur noch teilweise funktionsfähig.

Es gibt deshalb immer mehr Berichte über Notfallgeburten in Zelten, ohne jegliche medizinische Hilfe, mitten in der Nacht. UNFPA Executive Director Dr. Natalia Kanem beschreibt die Lage auf der „Urgent Humanitarian Response for Gaza“ Konferenz in Amman am 11. Juni:

„Stellen Sie sich vor, sie sind eine schwangere Frau in Gaza – eine Zeit, die bestimmt sein sollte von freudiger Erwartung, steht stattdessen unter dem drohenden Schatten von Tod, Zerstörung und Verzweiflung. Selbst wenn das Baby gesund auf die Welt gekommen ist, stellt sich für die junge Mutter die Frage, wie sie ihr Baby warmhalten, ernähren, ja schlicht am Leben halten kann. Traumatisiert, dehydriert, unterernährt, stehen viele schwangere und stillende Frauen … vor einer drohenden Hungerkatastrophe und ohne den Zugang zu einem Minimum von Nahrung und Medizin, damit das schlichte Überleben ermöglicht ist.“

Die Statistik zeichnet ein erschütterndes Bild:

96% der Mütter und Kinder (zwischen 6 und 23 Monaten) haben keine garantierte Nahrungsversorgung. 346.000 Kinder unter 5 und 160.000 schwangere und stillende Frauen brauchen Nahrungsergänzungsmittel, die es schlicht nicht gibt. 50.000 Kinder müssten wegen akuter Unterernährung behandelt werden. 17.000 schwangere Frauen sind inzwischen in der Phase von Notfall-Unterernährung (IPC4), 11.000 sogar in der Phase von katastrophaler Unterernährung (IPC5).

Wo bleibt der überfällige Druck von außen auf Israel, den Völkermord in Gaza zu beenden?

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Faisal al-Husseini starb am 31. Mai in Kuwait. Ein Herzschlag beendete sein Leben viel zu früh. Er war nach Kuwait gereist um zu versuchen, die nach dem Golfkrieg 1991 abgebrochenen Beziehungen zwischen der PLO und Kuwait wiederzubeleben.

Sein Leichnam wurde nach Amman gebracht und weiter mit einem jordanischen Armee-Hubschrauber nach Ramallah. Der Trauermarsch am 1. Juni begann in Ramallah und führte nach Jerusalem. Vor dem Orient-Haus, dem Sitz der palästinensischen Führung unter Faisal al-Husseini in Ost-Jerusalem, warteten Massen von Menschen, um sich anzuschließen. Ich selbst konnte mit meiner gesamten Familie dabei sein. Wer immer teilnehmen konnte, schloss sich an: Männer, Frauen, Kinder, Säkulare, Gläubige, Palästinenser, linke Israelis, Internationale, Christen wie Muslime: Faisal vereinigte sie alle noch einmal hinter seinem Sarg. Wir folgten ihm bis zum Haram al-Sharif. Alle betraten den Haram in Würdigung Faisals, wieder Frauen wie Männer, Muslime, Christen, Juden, Säkulare.

Ein historisches Ereignis, das Jerusalem weder davor noch danach erlebt hatte. Historisch aber vor allem der Verlust: Ost-Jerusalem hat seitdem keine politische Führung oder Vertretung mehr – weder gegenüber der israelischen Besatzung noch innerhalb der palästinensischen politischen Elite, ob in der sulta in Ramallah oder in der kritischen Opposition.

Die Grablegung erfolgte im engeren Familienkreis: Faisal fand die letzte Ruhe neben seinem Vater, Abdelqader al-Husseini, und seinem Großvater, Musa Qazem al-Husseini. Faisals Sohn, Abdelqader (nach seinem Großvater benannt, wie die Tradition das vorgibt) erzählte mir alles im Detail bei unserem Gespräch vor wenigen Tagen (Freitag, 19. Juli 2024).

Geburt und erste Lebensjahre von Faisal al-Husseini

Faisal wurde am 17. Juli 1940 in Baghdad geboren. Er wäre in diesem Monat 84 Jahre alt geworden – (ist also jünger als der amtierende palästinensische Präsident Mahmud Abbas, der inzwischen 88 Jahre alt ist). Sein Vater, Abdelqader al-Husseini, bis heute einer der Helden des palästinensischen Befreiungskampfes, war nach der ersten palästinensischen Revolte 1936-1938 verwundet und dann von der englischen kolonialen Mandatsmacht verhaftet worden. Über Beirut und Syrien gelangte er in den Irak. Eben dort, im Exil, wurde Faisal geboren. Nach einer weiteren Verhaftung durch die englische Kolonialmacht, nun im Irak, wurde er durch Intervention von Nuri Said, dem irakischen Regierungschef, freigelassen. Saudiarabien gewährte schließlich der gesamten Familie politisches „Asyl“.

1946 kam die Familie über Kairo wieder zurück nach Jerusalem. Abdelqader wurde in den Kämpfen gegen die Haganah am 8. April 1948 (also noch vor der Staatsgründung Israels) in der Schlacht von Qastel, westlich von Jerusalem, erschossen. Faisal wuchs als Halbwaise auf.

Faisal al-Husseini und Gaza in der Ersten Intifada

In den Jahren 1982 bis 1987 war er mehrmals sowohl in Hausarrest als auch in israelischer Haft wegen seiner politischen Aktivitäten als Mitglied von Fateh. Nach seiner Freilassung und nach Beginn der ersten Intifada nahm er seine beiden Kinder, Abdelqader und Fadwa, mit nach Gaza, damit sie nicht nur Jerusalem und die Westbank, sondern auch Gaza kennenlernten. Abdelqader erinnert sich noch sehr genau: drei junge Fatah-Aktivisten aus Gaza, Rafiq, Mohammed und Yunis holten sie mit einem Fiat ab an der Grenze zwischen Israel und dem Gaza-Streifen… heute der berühmt-berüchtigte Erez-Checkpoint. Zuerst machten sie Stopp im Jabaliya Flüchtlingslager im Norden Gazas. Dort nahmen sie an den Trauerfeierlichkeiten von zwei Jugendlichen teil. Die Mutter der Beiden, die insgesamt sechs Söhne hatte, war gefasst und hatte eine klare Botschaft für die Besucher aus Jerusalem: Ich bin bereit, noch weitere drei Söhne an die Intifada zu verlieren. Nur einer soll mir bleiben. Entscheidend ist, dass wir unsere Freiheit erkämpfen.

In Gaza bestand Faisal darauf, dass er nicht als Vertreter der Husseini-Familie, also führender Jerusalemer Notabeln, gekommen war. Vielmehr repräsentierte er Fatah und entscheidend die PLO als Vertretung der Palästinenser. Für ihn war es wichtig, so erinnert sich sein Sohn, dass die Zeit der Notabelnführung, die Zeit der Familien-Clans, vorbei war. Jetzt gab es eine nationale Führung, die alle Palästinenser repräsentierte und mit der alle Palästinenser ihre Freiheit erkämpfen würden mit ihrem Aufstand, durch die Intifada.

Noch vor dem Abzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen zu Beginn des Osloer Prozesses, also Ende 1993/Anfang 1994 (ehe die PLO unter Arafat nach Gaza kam) besuchte Faisal, wieder mit den Kindern, den Gazastreifen. In Deir el-Balah wurden sie von ihren Begleitern, alles Fatah-Aktivisten, gewarnt: in der Nähe seien Hamas-Aktivisten sein. Die Fatah-Leute „verzogen sich“, Faisal ging weiter und traf die Hamas-Aktivisten und begann eine intensive Diskussion. Er teilte mit ihnen seine Sorge, dass Israel bei der erstbesten Gelegenheit den ganzen Gazastreifen zerstören würde…

Arab Studies Society bis zur Schließung des Orient-Hauses im August 2001 durch

Regierung von Ariel Sharon

1979 gründete Faisal die Arab Studies Society, die er bis zu seinem Tod leitete. Ihr Sitz war das Orient-House in Ost-Jerusalem, ein Gebäude im Besitz der Husseini-Groß-Familie auf ihrem Privatland. Die Arab Studies Society widmete sich der Forschung über Jerusalem und Palästina. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit war das Zusammentragen von historischen Dokumenten, ebenfalls über Palästina generell, über Jerusalem im Besonderen. Viele politische und eher forschungsrelevante Veranstaltungen wurden im Orient-House durchgeführt.

Es gab jahrelange Versuche, zuerst durch Benjamin Netanyahu, dann durch seinen Nachfolger Ehud Olmert, das Orient-House und die Aktivitäten dort zu stoppen. Erst in der zweiten Intifada kam der endgültige Schließungsbeschluss durch Ariel Sharon im August 2001, gerade drei Monate nach dem Tod von Faisal. Die israelische Grenzpolizei, die in Jerusalem anstelle der Armee agiert, und der Geheimdienst drangen in das Orient-House ein und konfiszierten alles, was ihnen in die Hand fiel: von persönlichem Eigentum von Faisal und seinen Büchern sowie persönlichen Fotos über Informationen zur Madrid-Konferenz 1991, an der Faisal teilgenommen hatte, bis hin zur Foto-Kollektion der Arab Studies Society.

Bis heute hat Israel lediglich persönliche Fotos der Husseini-Familie zurückgegeben. Der Rest ist nach wie vor in israelischer Hand.

Faisal al-Husseini Stiftung

Nach dem Tode ihres Vaters gründeten Abdelqader und seine Schwester Fadwa die Faisal al-Husseini Stiftung. Sie wollten damit die Arbeit des Vaters fortführen und vor allem den Namen und die Erinnerung des Vaters erhalten. Schwerpunkt wurden sehr schnell Bildung und vor allem Schulbildung. Die Stiftung unterstützt Schulen in Ost-Jerusalem, mit dem Versuch, dort bestmögliche Lernbedingungen für alle Kinder zu schaffen.  Dies ist ein wichtiges Ziel. Denn besser situierte Familien schicken ihre Kinder auf Privatschulen, in denen sehr hohe Schulgebühren zu bezahlen sind. Der Stiftung geht es demgegenüber um Schulen, in denen kostenlos gelernt werden kann.

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

3.30 morgens, am 23.Oktober: Omar Assafs Frau weckt ihren Mann auf: die Armee ist vor unserem Haus vorgefahren. Zieh Dich an!

Für Omar Assaf nichts Neues. Als linker Aktivist, lange Jahre Gewerkschafter an der Universität Birzeit, gewähltes Mitglied im Gemeinderat von el-Bireh, ist er Verhaftungen gewohnt. Er meint, dass er mindestens schon 10 Mal israelische Gefängnisse von innen durchstehen musste.

Aber am 23. Oktober war alles anders. Früher klingelte die Armee und er machte die Tür auf. Diesmal sprengte das Armeekommando die Haustür. Er wurde sofort gefesselt, Binde vor die Augen und nach unten in einen der wartenden Jeeps gebracht: Dort wurde er regelrecht hineingeworfen, andere Verhaftete lagen ebenfalls schon auf dem Boden. Sein Sohn wurde derweil ebenfalls aus seiner Wohnung, über der Wohnung des Vaters, gelegen, geholt, zusammengeschlagen und nach unten auf die Straße gebracht, wo er gefesselt knien musste. Seine Frau und die Kinder und Enkelkinder wurden in das Schlafzimmer gesteckt und isoliert von allem.

Zuerst wurde Omar mit den anderen Gefangenen nach Etzion südlich von Hebron gebracht, wo er einige Tage unter unsäglichen Bedingungen festgehalten wurde. Dann wurde er ins Gefängnis Ofer, nordwestlich von Jerusalem (direkt außerhalb des Dorfes Beitunia), verlegt.

Nach zehn Tagen … er hatte eigentlich, wie schon früher, Administrativhaft erwartet… wurde er dem Richter vorgeführt. Die Anklage warf ihn erst einmal um: wichtiger Führer in der Hamas: ein säkularer linker Aktivist! Der Richter akzeptierte die Anklage auf der Basis von geheimen Papieren.

Nach einem Monat wurde er erneut dem Richter vorgeführt. Die Anklage habe sich als falsch erwiesen. Omar atmete auf: nun würde er endlich entlassen. Aber er hatte nicht mit dem gerechnet, was nun kommen würde: Er sei zwar kein Hamas Führer, aber er sei (Omar ist 74 Jahre alt) Führer im „harak shababi“, bei der Jugend-Revolte. Diese war 2011 gegründet worden als Reaktion auf den „arabischen Frühling“, vor allem in Tunesien und Ägypten.

Im Gefängnis Ofer wurde er, zusammen mit zehn weiteren Gefangenen in eine Zelle gesteckt, in der es sechs Betten gab. Zuvor musste er sich bis auf die Unterhose ausziehen und seine Kleidung abgeben. Dafür erhielt er eine Hose und ein T-Shirt. Zwei Monate lang konnte er sich nicht umziehen. Zwar gab es alle drei bis vier Tage die Möglichkeit, sich zu duschen: 12mg Seife gab es für die kalte Dusche in den Wintermonaten des palästinensischen Berglandes. Zum Abtrocknen ein halbes Handtuch. Dann gab es keine Alternative, als in die alte Kleidung zu schlüpfen.

In die Zelle kam kein Sonnenstrahl. Der Sauerstoff wurde immer wieder knapp, weil viel zu viele Menschen auf zu kleinem Raum zusammengepfercht waren. Im Unterschied zu früher waren Gefangene aller Organisationen, von Hamas bis zur PFLP, in einer Zelle, egal wie alt und egal woher. Ausgang aus der Zelle gab es nicht täglich. Rundgang draußen im Gefängnishof für maximal zehn Minuten. Die Zeit in der Dusche war etwas länger bemessen.

Die Haftbedingungen waren enorm verschärft, dank Polizeiminister Ben Gvir: Gefangene hatten keinen Zugang zu Radio und Fernsehen. Besuche durch Familie waren verboten.

Von der Außenwelt waren sie systematisch abgeriegelt. Dafür mussten sie den Horror aus der nebenan gelegenen Abteilung mithören, der Abteilung 23, in der nur Gefangene aus Gaza waren. Diese waren mit Ketten gefesselt, rund um die Uhr. Die Matratzen zum Schlafen wurden ihnen 5 Uhr morgens weggenommen und erst abends um 7 Uhr wieder zurückgegeben. Omar hörte, wie sie immer wieder zusammengeschlagen wurden, sich auf den Boden werfen und oft bellen mussten wie Hunde.

Der Arzt Dr. Adnan al-Barsh, 53, Direktor der orthopädischen Abteilung am Shifa-Krankenhaus in Gaza, starb am 19. April 2024 infolge von Folter in Ofer. Er war direkt bei seiner Behandlung von Patienten von der Armee verhaftet und nach Ofer gebracht worden.

Omar hatte derweil Glück. Sein Rechtsanwalt durfte ihn sehen und konnte seine Freilassung durchsetzen. Aber auch er musste zuvor Unsägliches durchmachen. Als er an einem Tag zusammengeschlagen wurde, erlitt er eine Kopfverletzung. Ein Arzt kümmerte sich tatsächlich um ihn: die Kopfverletzung wurde aber nicht medizinisch korrekt desinfiziert und behandelt durch Zunähen der klaffenden Wunde. Innerhalb von kurzer Zeit entzündete sich alles und Omar konnte sich wenigstens beim zuständigen Richter beschweren. Nach knapp sechs Monaten Haft in Ofer hatte Omar 29 kg abgenommen: es gab nie genug zu essen. Sein Bild, direkt nach der Freilassung, erschüttert.

Inzwischen wurden in israelischen Gefängnissen in der Westbank mindestens 19 Menschen zu Tode gefoltert. Der bis heute Letzte in dieser Liste des Grauens ist Scheich Mustafa Muhammad Abu Ara, 63. Obwohl er schwere gesundheitliche Probleme hatte und intensive medizinische Versorgung gebraucht hätte, scherte das niemand im Gefängnis Ramon, wo er seit seiner Verhaftung im Oktober 2013 festgehalten worden ist. Wie alle palästinensischen Gefangenen wurde er über Monate gefoltert. Als sich sein Zustand extrem verschlechterte, brachte man ihn ins Krankenhaus, wo er kurz darauf verstarb.

Im Foltergefängnis Sde Teiman in der Negev Wüste, dem israelischen Guantanamo, wurden seit Oktober 35 Menschen regelrecht ermordet, wie Reuters auf der Basis eines UN Berichtes vom 31. Juli meldet. „In Sde Teiman wurden sie in einer Art Käfig festgehalten, nur mit Windeln bekleidet über längere Perioden…“

Und Volker Türk, der UN High Commisioner, erläutert den Bericht:  „Die Zeugenaussagen, die mein Büro… gesammelt hat, weisen auf entsetzliche Taten hin, wie Waterboarding und das Hetzen von Hunden auf die Gefangenen, in flagranter Verletzung des internationalen Menschenrechtes sowie des internationalen humanitären Gesetzes“.

Inzwischen hat ein israelischer Arzt, so Haaretz, auf ein extremes Beispiel von Sodomie durch Soldaten in Sde Teiman hingewiesen, bei dem der so sexuell gefolterte fast starb. Darüber mehr Details weiter unten. Und das Foltern geht ungemindert weiter, unterstützt von großen Teilen der israelischen Gesellschaft, wie Faris Giacaman am 31. Juli in Mondoweiss überzeugend analysiert.

Palästinensische Quellen (ad-Dameer) melden am 30. Juni allein für die Westbank 9.700 politische Gefangene, davon mindestens 3.380, die unter Administrativhaft gestellt wurden, also ohne Anklage und ohne reguläres Gerichtsverfahren. Vor dem 7. Oktober waren es im Vergleich 5.200 Gefangene und 1.264 Administrativ-Häftlinge!

Erst gestern, am 2. August, wurde der 85-jährige Scheich Akrima Sabri zunächst unter Administrativhaft gestellt, die problemlos auf sechs Monate festgelegt und dann je nach Belieben der Geheimdienste und der Armee verlängert werden kann. Akrima Sabri war festgenommen worden, nachdem er beim Freitagsgebet in der Aqsa-Moschee Trauer für den ermordeten Scheich Ismail Haniyeh, Leiter des Politbüros der Hamas, ausgesprochen hatte.

Die fadenscheinige Anklage, die sein Rechtsanwalt sofort auf der Basis geltenden israelischen Rechts zurückwies, bestand aus Hetzrede und Anti-Semitismus!!!

Aus dem Gazastreifen wurden seit dem Oktober 2023 mindestens 8.000 Menschen nach Sde Teiman verschleppt als angebliche Hamas-Terroristen, die für den 7. Oktober verantwortlich seien. Nach einigen Monaten wurden mehr als 4.000 freigelassen. Offensichtlich waren sie also weder Terroristen noch hatten sie irgendetwas mit dem 7. Oktober zu tun.

Folter in Sde Teiman

Ein israelischer Arzt im Feldlazarett von Sde Teiman, Dr.Youel Donchin, berichtete auf der israelischen Fernsehstation Kan (so die Times of Israel), dass ihm ein Gefangener mit gebrochenen Rippen und klaren Zeichen physischen Missbrauchs auf mehreren Knochen vorgeführt worden sei. Er bestätigte, dass ein runder Gegenstand tief in das Rektum des Gefangenen eingeführt worden war. Das habe einen Riss im Darm sowie Verletzungen in einer Lunge verursacht. Nur eine Notoperation hätte. hier helfen können. Inzwischen berichtet Haaretz am 1. August, dass der gefolterte Gefangene wieder aus dem Krankenhaus nach Sde Teiman gebracht worden sei. Ärzte von Human Rights Israel sind entsetzt: „Dass man den Gefangenen zurück in die Klinik nach Sde Teiman gebracht hat, wo er gefoltert worden war, ist ein ernstes ethisches und professionelles Versagen der medizinischen Verantwortlichen und der Krankenhausverwaltung, die in seine Behandlung involviert waren…. Dadurch schufen sie die Möglichkeit, dass der Gefangene wieder den Soldaten ausgesetzt werden könnte, die unter dem Verdacht stehen, ihn vergewaltigt zu haben….“

Wer ist Omar Assaf?

Davor und danach

Omar Assaf ist linker Aktivist, war lange Jahre Gewerkschafter an der Universität Birzeit, er war gewähltes Mitglied im Gemeinderat von Ramallah. Damit ist er ein Dorn im Auge der israelischen Besatzung (siehe Artikel). Aber auch die palästinensische „Herrschaft (sulta auf Arabisch)“ nimmt ihn immer wieder ins Kreuzfeuer. Immer wieder wird er auch von ihnen in Haft genommen.

 Als Nizar Banat, wohl der unerbittlichste Kritiker von Mahmud Abbas und seiner Kollaborateurs-Clique, 2021 von Fatah-Schergen in seiner Heimatstadt Hebron spricht und einfach ermordet wurde, demonstrierten Palästinenser überall in den besetzten Gebieten. Die zentrale Demonstration fand in Ramallah statt. Omar Assaf gehörte zu den Mitorganisatoren und stand in der ersten Reihe der Demonstranten.

Dr. Mamduh Aker, ehemaliger Vorsitzender des Aufsichtsrates der Universität Birzeit, verlas am 24. Juni 2021 ein Manifest der „Koalition ziviler und sozialer Institutionen“. Darin wurden Abbas und seine sulta scharf verurteilt, während eine klare Forderung nach Gerechtigkeit und Freiheit erhoben wurde.

„Wir klagen Präsident Mahmus Abbas und die gesamte politische Führung an und machen sie verantwortlich für das, was heute Nizar Banat angetan wurde.
Wir fordern die Entlassung der Regierung und die Bildung einer Übergangsregierung von unabhängigen nationalen Persönlichkeiten, um Wahlen vorzubereiten für den Legislativrat sowie für einen neuen Präsidenten innerhalb von sechs Monaten.

Wir fordern die Entlassung aller Sicherheitsorgane. Wir fordern, dass alle, die den Befehl zur Tötung von Nizar Banat, den Märtyrer der Meinungsfreiheit, gegeben und diese ausgeführt haben, zur Verantwortung gezogen werden.

….

Unser Volk schreit: Wir haben genug

Unser Volk schreit: Genug ist genug.“

(Baumgarten 2021: Kein Frieden für Palästina. S.176-178)

Schon vor dieser kaum zu fassenden Vergewaltigung berichtete CNN am 11. Mai auf der Basis von drei Whistleblowern aus Sde Teiman von flächendeckendem Missbrauch von Gefangenen, darunter z.B. extremer Einsatz von Fesselung durch Ketten, Amputationen infolge von zu langem und viel zu engem Anlegen von Handfesseln, Schläge, keine medizinische Versorgung, willkürliche Bestrafungen, demütigende, erniedrigende und entwürdigende Bestrafungen wie z.B. Verbot, die Toiletten zu benutzen etc.

Am 29. Juli wurden zehn Soldaten von Militärpolizei verhaftet wegen des Verdachtes auf Misshandlung von Gefangenen. Die Reaktion war eine regelrechte Meuterei mit einem rechtsradikalen Mob, Siedlern, Knesset Abgeordneten und Ministern, die sowohl Sde Teiman als auch das Militärgefängnis in Beit Lid, zu dem die festgenommenen Soldaten gebracht worden waren, versuchten zu stürmen. Inzwischen sind zwei der Soldaten freigelassen. Die Haft der verbliebenen 10 Soldaten wurde zunächst bis Sonntag, 4. August, verlängert.