Die Berichterstattung über die Terroraktion der Hamas vom 7.10.

– die, damit es zu keinen mehr oder minder bewussten Missverständnissen kommen möge, zu verurteilen ist – hat uns wieder einmal die auch im „wertegeleiteten Westen“ herrschende absolut inakzeptable Doppelmoral drastisch vor Augen geführt. Angesichts der Brutalität und des Ausmaßes dieser Aktion ist Empörung, auch Verzweiflung, absolut nachvollziehbar und legitim. Dass aber die Hintergründe des ganzen Konfliktes, welche mehr als 50 Jahre zurückreichen, die Widersprüche, wo blieb die legendäre Professionalität der israelischen Sicherheitskräfte, so gut wie nicht erwähnt werden, war und ist schon bemerkenswert. Warum hat man die offensichtlichen Warnungen von ägyptischer Seite ignoriert? Waren vielleicht wichtige Teile der aktuellen israelischen Regierung, welche zuletzt wegen ihrer staatsstreichähnlichen Justizreform stark unter Druck gekommen sind, sogar an einer gewissen Ablenkung interessiert? Der Eintritt von Teilen der bisherigen Opposition in die Notstandsregierung hat jedenfalls diese Probleme für eine längere Zeit vom Tisch gewischt. Auch die zuletzt schüchtern geäußerte Kritik der USA, des wichtigsten und trotz allem bedingungslosen Unterstützers des jüdischen Staates, ist in eine grenzenlose, auch militärische, Unterstützung, Israels umgeschlagen. Hier gäbe es noch einer Reihe weiterer interessanter Fragen, die in der allumfassenden internationalen Solidarität nun einfach unter den Tisch fallen. Die internationale Solidarität mit Israel auf politischer und auch medialer Ebene ist grenzenlos und total, vor allem in Deutschland und Österreich.

In dieser Situation wird man bereits als pathologischer Antisemit diffamiert, wenn man kritische Fragen stellt. Neben der bereits erwähnten Verwunderung über die plötzliche Schwäche des israelischen Geheimdienstes und Militärs ist da noch eine weitaus größere Verwunderung bezüglich der angeblichen Überraschung über diese Aktion zu artikulieren. Nach 56 Jahren Jahren Besatzungsregime, nach der – unzählige male wegen Völkerrechtswidrigkeit verurteilter – Siedlungs- und Landraubpolitik, nach der gezielten Tötung von durchschnittlich 400 Palästinenser*innen pro Jahr(1) sowie nach der unmissverständlichen Aufkündigung der nach wie völkerrechtlich verbindlichen Zweistaatenlösung durch die Ende des Vorjahres an die Macht gekommene israelische Ultra-Rechts-Regierung, deren wesentliche Partner unmissverständlich den Anspruch des jüdischen Volkes auf das gesamte Territorium des ehemaligen britischen Völkerbundmandates angemeldet haben, kann es doch für jeden nur einigermaßen informierten Menschen eine Frage der Zeit bis zu einer massiven Widerstandsaktion gewesen sein. Auch wenn man Art und Umfang dieser Aktion verurteilen mag, so war diese durchaus ein erwartbarer und auch legitimer Akt des Widerstandes.

Wer also immer die seit 1948 anhaltende völkerrechtswidrige Vertreibungs- und Besatzungspolitik Israels ohne Einspruch und/oder Verurteilung hingenommen und/oder unterstützt hat, muss sich daher völlig legitim den Vorwurf der Doppelmoral gefallen lassen. Das, was man dem südafrikanischen, dem algerischen und anderen ehemals kolonialisierten Völkern zugute gehalten hat, muss auch für das palästinensische gelten. Und dass es bei derartigen Befreiungsprozessen – leider – auch immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen gekommen ist, ist höchst bedauerlich und auch zu verurteilen. Übrigens scheint es vielen der aktuellen Israel-Unterstützer*innen nicht bekannt und/oder bewusst zu sein, dass es auch vor (leider auch nach) der Gründung des jüdischen Staates zu schrecklichen Übergriffen und Verbrechen seitens jüdischer Terrororganisationen gekommen ist. Keiner der damaligen Täter wurde jemals zur Verantwortung gezogen, manche davon sind sogar in höchste Staatsämter Israels aufgestiegen.

Zur Gedächtnisauffrischung der Israellobbyist*innen in Politik und Medien

Zur Schließung einer Reihe von Gedächtnis- und Wissenslücken Jener, die sich in den letzten Tagen für eine bedingungslose Solidarität mit Israel ohne Berücksichtung mancher Widersprüche und offener Fragen engagiert haben, verweise ich auf einige Publikationen der letzten Tage. Diese erlauben eine umfassendere Einschätzung der Lage, vor allem auch unter Berücksichtigung von teilweise lange Zeit zurückliegende Konfliktursachen:

  • Der US-amerikanische Publizist Patrick Lawrence bietet eine umfassende Analyse der gesamten Situation. (Link)
  • Der deutsche Sicherheitsexperte Jürgen Hübschen befasst sich in erster Linie mit der Vorhersehbarkeit einer derartigen Aktion. (Link)
  • Im New Yorker erläutern Adam Rasgon und David D. Kickpatrick eine Reihe weiterer bislang unbekannter Details. Ein Gespräch mit dem führenden Hamas-Funktionär Al-Marzouk bringt durchaus interessante Einblicke. (Englisch / Deutsch)
  • Seymour Hersh beschreibt die Pläne Israels, unter Einsatz der jüngsten (also tödlichsten) Generation US-amerikanischer „bunker-busters JDAM“ Gaza City dem Erdboden gleichzumachen und einen Großteil der Bewohner*innen des Gazastreifens in den ägyptischen Sinai zu vertreiben. Dass der Einsatz dieser Superbomben bereits eine längerfristige gemeinsame Planung mit der US-Armee voraussetzt, ist wohl anzunehmen, und die Planungen bezüglich der Errichtung eines Mega-Flüchtlingslagers auf ägyptischem Territorium kaum mit Ägypten abgesprochen sein dürften, sieht man wieder Beispiele für die rücksichtslose Vorgangsweise Israels. (Englisch / Deutsch)
  • Schließlich verweise ich auch noch auf Stellungnahmen der Palästinensischen Gemeinde in Österreich und der European Coordination of Committees and Associations for Palestine. (PGO / ECCP)

Die Haltung Europas, ganz besondere Österreichs, stellt einen flagranten Bruch früherer Positionen dar: Sie legitimiert die aggressive und völkerrechtswidrige Politik und delegitimiert die völkerrechtlichen Ansprüche der Palästinenser!

Abschließend noch einige Worte zur Position Österreichs. Diese wurde innerhalb weniger Jahre Schritt für Schritt in ihr Gegenteil verkehrt. Aus der mutigen und weitsichtigen Position, die Bruno Kreisky in den 70er Jahren formuliert hat, wodurch ein wesentlicher Beitrag zu einer breiten internationalen Anerkennung der Ansprüche des Palästinensischen Volkes geleistet worden ist, ist eine der kritiklosesten pro-israelischen Haltungen in ganz Europa geworden. Die bereits zum zweiten male durchgeführte Beflaggung des Bundeskanzleramtes und des Außenministeriums, welche diesmal noch durch die Beflaggung des Parlamentes getoppt worden ist, hat sich nicht einmal die deutsche Bundesregierung getraut, obwohl in Deutschland die Israelsolidarität bekanntlich zur Staatsräson gehört. Dieser radikale Kurswechsel Österreich hat mit türkis-blau begonnen, wie man sieht, haben nunmehr die Grünen die diesbezügliche Position der Blauen ein zu eins übernommen.

Es gäbe noch viel über den aktuellen Anlassfall, vor allem auch über die in der aktuellen Debatte durchaus bewusst ausgesparten historischen Entwicklungen zu berichten, aber ich schließe einmal diese erste umfassende Information. Es ist zu befürchten, dass dieser neuerliche israelisch-palästinensische Waffengang längere Zeit andauern wird und die bisherigen bei weitem übertreffen wird.

(1) Diese Angaben sind den Aufzeichnungen der UNO (OCHA) entnommen, welche diese makabre Statistik seit 2008 führt. https://www.ochaopt.org/country/opt

https://ochaopt.org/content/hostilities-gaza-and-israel-flash-appeal

Zionismus, Kolonialismus, Apartheid — und danach?

Gespräch mit Michael Ingber

Montag, 16.01.2023 – 19.00
Aktionsradius Wien,
1200 Wien, Gaußplatz 11

Bei dieser Veranstaltung wird der Weg eines Menschen geschildert von einer jüdisch- humanistischen Erziehung, über den vom Zionismus motivierten langjährigen Militärdienst bei der israelischen Armee, bis zum Engagement als Friedensaktivist, der sich für die Rechte der PalästinenserInnen einsetzt.
Dadurch sollten die Schwierigkeiten einer Änderung der Einstellung und der Weltanschauung von jungen Frauen und Männern beleuchtet werden, welche zum Teil auch aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen ihre Ablehnung und ihren Protest durch Verweigerung des Militärdienstes artikulieren.
Auf dieser Grundlage werden die folgenden Fragen behandelt:

  • Das Leben der PalästinenserInnen unter israelischer Besatzung.
  • Israel heute, mit besonderem Fokus auf
    • den weiteren Rechtsrutsch der jüdisch-israelischen Gesellschaft und Politik – und dessen Bedeutung für die palästinensischen BürgerInnen des Staates Israel
    • Jüdisch-israelischer Militarismus, religiöser Fundamentalismus und Erziehung unter dem Einfluss des Holocaust
  • Strategien Richtung Versöhnung und Frieden

Zu Michael Ingber:
„Nachdem ich 1968 die israelische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, bin ich von der israelischen Armee eingezogen worden und leistete insgesamt 26 Jahre Militärdienst. Jahrelang war ich in der von Israel besetzten palästinensischen West Bank in unmittelbarem Einsatz des Besatzungsapparats und nahm an Aktionen teil, welche die Zivil- und Menschenrechte der PalästinenserInnen schwer verletzten. Erst in den 1990er Jahren habe ich PalästinenserInnen auf einer persönlichen Ebene, d.h. auf Augenhöhe — und nicht in einer Konfrontationssituation — kennengelernt, und, ergänzt durch eigene Recherchen, er- fuhr ich eine tiefgreifende Veränderung meiner politischen Einstellungen. Dies umfasst auch meine Weltanschauung in grundlegenden Fragen der menschlichen Beziehungen und der Legitimität und Sinnhaftigkeit der Gewaltanwendung.“

In den letzten Wochen ist es zu einer spürbaren Verschärfung der israelischen Besatzungspolitik gekommen. Offensichtlich versucht die gescheiterte israelische Regierung daraus Kapital für ihre Wahlkampagne zu schlagen. Dies geht ausschließlich zulasten der palästinensischen Bevölkerung ist absolut zu verurteilen. Die jüngsten Angriffe auf Gaza stellten einen traurigen Höhepunkt dar, es gab aber schon davor massive Aktionen in Jenin und inzwischen auch unmittelbar danach in Nablus Aktionen, die zu weiteren Toten und Verletzten führten.

Ein für Österreich besonders unerfreulicher Aspekt war leider die neuerlich zum Ausdruck gebrachte radikale Richtungsänderung der österreichischen Nahostpolitik. Wie bereits bei der Beflaggung des Bundeskanzleramtes und des Außenministeriums bei einem Vorfall vor einigen Monaten hat auch diesmal wieder die Bundesregierung eine völlig einseitige Stellungnahme abgegeben. Diese stellt nicht nur einen Bruch mit der jahrzehntelangen österreichischen Position dar sondern setzt sich auch in klaren Widerspruch zu geltenden menschen- und völkerrechtlichen Bestimmungen. Die GÖAB protestiert dagegen auf das Schärfste.

Wir verweisen auf aktuelle Videos, welche auf dem YouTube Kanal der Zeitschrift INTERNATIONAL veröffentlicht worden sind.