Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Von Helga Baumgarten

Die Riverside-Kirche in New York: ein historischer Ort. Hier hat Martin Luther King jun. am 4. April 1967 seine Predigt gegen den Vietnam Krieg gehalten: „Beyond Vietnam: A time to break silence.“ (Jenseits von Vietnam: Wir müssen das Schweigen brechen).

57 Jahre später fordert ein palästinensischer Pfarrer dasselbe und klagt an:

„Wer schweigt, ist Mittäter“. https://www.youtube.com/watch?v=myoqdguyG84

Es ist derzeit nicht einfach, aus Jerusalem nach Bethlehem und nach Beit Sahour zu fahren, um Pfarrer Munther Isaac zu treffen. Immer wieder steht man vor Beton-Blöcken oder hermetisch geschlossenen Schranken, die einem am Weiterfahren hintern. Aber nach mehreren Versuchen sind wir in Bethlehem angekommen, wo Pfarrer Munther an der evangelischen Weihnachtskirche mitten in Bethlehem und zusätzlich an der evangelisch-lutherischen Kirche in Beit Sahour zuständig ist. An diesem Samstag treffen wir ihn in Beit Sahour.

Munther Isaac wurde weltberühmt mit seiner Weihnachtspredigt 2023, in der er die Welt, vor allem die christliche Welt, anklagt wegen ihres Schweigens zu Gaza. Die Predigt endet mit dem Satz, den er seinen Zuhörer und Zuschauern regelrecht einhämmert durch immer neue Wiederholungen:

„Diese Botschaft ist unsere Botschaft an die Welt von heute, und sie lautet einfach so:

Dieser Völkermord muss jetzt aufhören.“

Er wird sehr deutlich und hält mit seiner Kritik nicht zurück. Der Westen inklusive der westlichen Kirchen, so Pfarrer Munther, unterstützt Israels Völkermord auf allen Ebenen: militärisch durch immer neue Waffenlieferungen, finanziell mit ununterbrochenen Zahlungen und schließlich ideologisch. Grund sind – und wir sprechen ausführlich darüber –  der westliche Kolonialismus in neuer Form, der Rassismus gegenüber allen Nicht-Weißen, also „white supremacy“,  und die unverbrüchliche Unterstützung einer jeden israelischen Regierung und ihrer jeweiligen „Politik“ gegenüber den Palästinensern. Und diese „Politik“ besteht aus Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung und konstituiert ein Apartheid-System.

Eben dagegen kämpft der Pfarrer, der sich selbst als „arabischer palästinensischer Christ“ definiert: in seinen Predigten, in Vorträgen per Zoom und auf Reisen, in den vielen Büchern, die er schon geschrieben hat. Aktiv ist er nicht nur individuell-persönlich, sondern vor allem in zwei „Organisationen“:

Da ist an erster Stelle „Kairos Palästina“ zu nennen, das 2009 gegründet wurde (siehe dazu Brief aus Jerusalem zu Abuna Atallah Hanna):  »A Moment of Truth« (Ein Moment der Wahrheit). Kairos Palästina baut auf den Erfahrungen Südafrikas auf, wo 1985 die erste Kairos-Initiative entstand.

https://www.sahistory.org.za/sites/default/files/archive-files3/boo19860000.026.009.354.pdf

Nicht zuletzt dieser christliche Widerstand beendete den Kampf dort gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und gegen das Apartheidregime. Ziel war die Herstellung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer Demokratie für alle.

Genau dies sind auch die Ziele von Kairos Palästina. Kairos Palästina betrachtet sich nicht als politische Bewegung, vielmehr baut es auf den biblischen Texten auf. Es spricht die Christen in aller Welt in der Sprache an, die sie kennen: in der Sprache des Evangeliums. Es vermittelt eine im Westen oft geflissentlich übersehene Tatsache, dass nämlich Palästina das Land ist, in dem Jesus die erste christliche Gemeinde gründete. Gleichzeitig kommuniziert es eine zentrale Botschaft, dass es in eben diesem Land um die gerechte Sache eines Volkes geht, das endlich in Frieden und Freiheit auf der Grundlage von Gerechtigkeit leben möchte.

Kairos Palästina ist aktiv in Palästina selbst und vor allem international. Delegationen der Gruppe nehmen weltweit an Konferenzen teil, vor allem an kirchlichen Konferenzen, z.B. zuletzt am Weltkirchenrat 2022 in Karlsruhe.

Auch Pfarrer Isaac war dort und ist bis heute einigermaßen entsetzt über die offiziellen deutschen Positionen: extrem einseitig auf der Seite Israels, ungeachtet der israelischen Besatzung über die Palästinenser und durch schlichtes Ausklammern der Realität von Siedlerkolonialismus und Apartheid. Die Mitglieder von Kairos Palästina in Deutschland waren der einzige Trost für Pfarrer Munther und die gesamte palästinensische Delegation in Karlsruhe. Seinen Freund, einen unerschrockenen Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, Professor Ulrich Duchrow, hebt er dabei hervor. Duchrow lasse sich durch niemanden und nichts mehr einschüchtern. Wie die anderen Mitglieder von Kairos Palästina ist auch Pfarrer Munther viel unterwegs und besucht Kirchengemeinden weltweit, um vor Ihnen über die Lage in Palästina und insbesondere die Lage der Christen dort zu reden.

Inzwischen hat Kairos Palästina Partnerorganisationen überall neben Deutschland u.a. in der Schweiz und in den USA. Munther Isaac betrachtet sich als zweite Generation von Kairos Palästina und nennt Abuna Atallah Hanna und Pfarrer Mitri Raheb als die Gründer und die erste Generation.

https://www.kairospalestine.ps/index.php/about-kairos/global-kairos,

Die zweite Bewegung, in der er sehr aktiv ist und die er für besonders wichtig hält, ist

Sabeel oder präziser „das ökumenische Zentrum von Befreiungstheologie“, also ein palästinensisches Beispiel der in Lateinamerika entstandenen Befreiungstheologie.

Sabeel zielt ab auf theologische Befreiung durch den christlichen Glauben im Alltagsleben all derer, die unter Besatzung, Gewalt, Unrecht und Diskrimination leiden. Sie betrachten sich als palästinensische Christen, die inspiriert sind durch das Leben und die Lehre von Jesus Christus, der immer auf der Seite der Unterdrückten stand. Sie engagieren sich für Gerechtigkeit und versuchen, Frieden zu schaffen.

https://sabeel.org

Sehr wichtig ist für Sabeel (gegründet 1987 vom Jerusalemer Pfarrer Naim Ateek, einem Anglikaner, mit seinem Buch aus dem Jahre 1989: „Justice and only Justice. A Palestinian Theology of Liberation“) die ökumenische Einheit aller christlichen Gemeinden in Palästina und gleichzeitig die enge Kooperation mit den palästinensischen muslimischen Gemeinden.

(Bild von Webseite Sabeel mit dem ehemaligen katholischen Kardinal Michel Sabah)

Auch Sabeel hat inzwischen weltweit Partnerorganisationen. Sabeel Nordamerika (Friends of Sabeel – North America (FOSNA) hat übrigens die Predigt von Munther Isaac in der Riverside Church in New York am 14. August organisiert.  Beide Organisationen unterstützen die gewaltlose Initiative BDS: Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen.

In Europa, vor allem in Deutschland und speziell in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) treffen sie da auf massive Kritik, ja offene Ablehnung. Selbst jeder Dialog, jede Auseinandersetzung über BDS wird abgeblockt. Und dann folgt die Verleumdung der palästinensischen Christen mit der pauschal-billigen Beschuldigung, sie seien Anti-Semiten.

Gerade den deutschen Christen… aber ähnlich auch den Christen in anderen europäischen Staaten und in den USA… wird offensichtlich nicht bewusst, wie sie die Palästinenser von oben herab behandeln. Und wie oft in Deutschland, nicht nur bei Christen, geht man davon aus, dass man grundsätzlich alles besser weiß. Pfarrer Munther klagt an, dass die offizielle Kirche sich anmaßt, den palästinensischen Christen theologische Nachhilfe zu geben, ja, ihnen zu „erklären“, wie sie ihre Unterdrückung durch den Zionismus und den israelischen Siedlerkolonialismus „verstehen“ müssen.

Während der derzeitige US-Präsident Joe Biden sich offen als Zionist bekennt, sind die Deutschen, nicht nur Regierung und etablierte Medien, auch die offizielle Kirche, praktisch Zionisten in ihrer Politik, ihrem Handeln und in ihrer Ideologie. Das war schon über die Jahre hin unerträglich für Palästinenser. Seit dem Beginn des Krieges gegen Gaza, seit Völkermord und erbarmungslose Zerstörung Gaza zur Hölle gemacht haben, sind palästinensische Christen wie Munther Isaac, sind Kairos Palästina und Sabeel nicht mehr bereit, dies stillschweigend hinzunehmen.

Und die Welt hört sie, muss sie anhören, nicht zuletzt in den Predigten von Pfarrer Munther.

Aber dieser klagt und schließt mit ersichtlichem Entsetzen: wir reden und schreiben ununterbrochen gegen den Krieg, gegen den Völkermord, fordern zumindest einen Waffenstillstand: aber bis heute sind wir gescheitert. Die israelische Armee kann ihren Völkermord ungehindert weiterführen, 24 Stunden live auf Bildschirmen und im Internet. Die Waffen schweigen nicht. Und die Welt und die Kirchen schauen zu!

Wer ist Munther Isaac?  

Er stammt aus Beit Sahour südlich von Jerusalem, der direkten Nachbarstadt zu Bethlehem. Nach dem Schulabschluss studierte er Civil Engineering an der Universität Birzeit und schloss mit einem Bachelor in Ingenieurswissenschaften ab. Aber dann kam der große Einschnitt auf seinem Lebensweg. Er entschied sich für ein Studium der Theologie und erwarb einen Magister vom Westminster Theologischen Seminar in Philadelphia in den USA. Seinen Doktor machte er in Oxford mit der Dissertation: „A Biblical Theology of the Promised Land”.

Er ist heute Pfarrer und betreut, wie schon oben angeführt, die evangelischen Gemeinden in Bethlehem und Beit Sahour. Sonntags muss er gleich zwei Sonntagspredigten halten. Die erste um 9 Uhr in Beit Sahour, die zweite um 10.30 in Bethlehem.

Er lehrt außerdem am Bethlehem Bible College. Schließlich zeichnet er verantwortlich für die Konferenzen „Christ at the Checkpoint”, die international hochgeschätzt und sehr einflussreich sind.  https://christatthecheckpoint.bethbc.edu/small-documentaries/

Neben seiner Arbeit als Pfarrer ist er sehr engagiert, schreibt und publiziert fast ununterbrochen.

Der Berliner AphorismA Verlag hat 2021 sein Buch „On the other Side of the Wall“ ins Deutsche übersetzt und herausgebracht: „Die andere Seite der Mauer“

https://www.lehmanns.de/shop/geisteswissenschaften/57169127-9783865750891-die-andere-seite-der-mauer

Seit dem Beginn des Völkermordes in Gaza ist er außerdem international in immer neuen Zoom-Vorträgen zu hören. Und er versucht zu reisen, wann immer das möglich ist, um die Botschaft aus Palästina von Völkermord, Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung und Apartheid zu verbreiten. Vor allem aber, um Druck aus den internationalen Kirchengemeinden und Zivilgesellschaften aufzubauen gegen all die Regierungen im Westen, die bis heute den Völkermord unterstützen und mittragen.

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Erzbischof Theodosius von Sebastia am Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Jerusalem

„Abuna Hanna Atallah“

Interview am 11. Sept 2024 im Ambassador Hotel in Jerusalem

Von Helga Baumgarten

„Ich bin Christ und Palästinenser. Ich halte fest an meinem Glauben, der Liebe zu meiner Kirche und ebenso halte ich fest an der Liebe zu meinem Volk. Genau wie ich meiner Kirche zutiefst verbunden bin, bin ich meinem Volk und unserer „Sache“ zutiefst verbunden.“ So stellt sich Erzbischof Theodosius von Sebastia, der im Volksmund schlicht „Abuna“ (unser Vater) Hanna Atallah genannt wird, mir vor. Am 24. Dezember 2005 wurde er in der Grabeskirche in Jerusalem zum Erzbischof ordiniert. Er ist erst der zweite Palästinenser in der Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, der dieses Amt bekleidet.

Er ist eben aus Ramallah zurückgekehrt. Dort sprach er vor 150 Schülern im Scharek Jugendforum, das Jugendliche dafür mobilisiert, dass sie sich aktiv in ihre Gesellschaft einbringen. Sein Tag begann sehr hart: drei Stunden brauchte er, bis er in Ramallah angekommen war. Grund war ein Anschlag (so die israelische Version) mit einem Tanklastwagen bzw. ein Unfall (so die palästinensische Version) an der Abzweigung nach Ramallah nordöstlich von Jerusalem. Ein Soldat wurde getötet, der Lastwagenchauffeur wurde angeschossen und schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht. Die Rückfahrt verlief nicht viel besser. Aber Abuna wollte unseren Termin einhalten, ehe er weiterfahren musste zur nächsten Verpflichtung in Bethlehem.

Allein die Fahrt nach Ramallah und zurück zeigt, dass der Erzbischof ohne jegliche Privilegien – anders als die palästinensische Regierung in Ramallah, die sulta, angefangen von Präsident Mahmud Abbas, aber auch anders als alle in Palästina aktiven internationalen NGOs – reist. Darauf angesprochen meint er, er sei ein Palästinenser wie alle anderen Palästinenser auch. Er betrachte sich weder als besser noch als bevorzugt wegen seiner Stellung in der Kirche. Ganz im Gegenteil: er müsse und wolle alles mit seinen Landsleuten teilen.

Zusammen mit anderen Christen sowie mit säkularen Menschen hat er 2009 die Bewegung »Kairos Palästina« mit der Veröffentlichung des Dokuments »A Moment of Truth« (Ein Moment der Wahrheit) gegründet. Kairos Palästina baut auf den Erfahrungen des theologischen Briefes zu Südafrika (1985), dem ersten Kairos-Dokument,

auf und dem letztendlich erfolgreichen Kampf dort gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und gegen das Apartheidregime. Ziel war die Herstellung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer Demokratie für alle.

https://www.sahistory.org.za/sites/default/files/archive-files3/boo19860000.026.009.354.pdf

Genau dies sind auch die Ziele von Kairos Palästina. Kairos Palästina ist nicht politisch, vielmehr baut es auf den biblischen Texten auf. Es spricht die Christen in aller Welt in der Sprache an, die sie kennen: in der Sprache des Evangeliums. Es vermittelt eine im Westen oft geflissentlich übersehene Tatsache, dass nämlich Palästina das Land ist, in dem Jesus die erste christliche Gemeinde gründete. Gleichzeitig kommuniziert es eine zentrale Botschaft, dass es in eben diesem Land um die gerechte Sache eines Volkes geht, das endlich in Frieden und Freiheit auf der Grundlage von Gerechtigkeit leben möchte.

Kairos Palästina ist aktiv in Palästina selbst und vor allem international. Delegationen der Gruppe nehmen weltweit an Konferenzen teil, vor allem an kirchlichen Konferenzen, z.B. zuletzt am Weltkirchenrat 2022 in Karlsruhe. Sie besuchen regelmäßig interessierte Gemeinden in Europa und in den USA. Und inzwischen gibt es Partnerorganisationen überall

 z.B. in Deutschland, in der Schweiz und in den USA.

https://www.kairospalestine.ps/index.php/about-kairos/global-kairos,

Hier sollte der Schwerpunkt gesetzt werden, meint der Erzbischof. Er kritisiert, dass Palästinenser oft im Selbstgespräch aktiv sind, anstatt sich nach außen zu wenden, um die notwendige Unterstützung zu bekommen. Auf meine kritische Nachfrage zu den eher negativen und vor allem pro-israelischen Positionen im Norden, antwortet er sehr diplomatisch: Sicher könnte die Unterstützung durch die Kirchen international besser sein, nicht nur in Worten, sondern vor allem in Taten. Aber er verbindet das gleich wieder mit Selbstkritik: „Wir müssen unsere Sache besser kommunizieren.“

Dann wechseln wir zum problematischen Thema der Auswanderung von Christen aus Palästina. Atallah Hanna sieht darin eine der größten Herausforderungen für die christlichen Gemeinden vor Ort, aber auch und vielleicht mindestens ebenso für die palästinensische Gesellschaft. Die Zahl der Christen in Palästina ist inzwischen dramatisch zurückgegangen.

Er beginnt mit dem Beispiel Gaza. Vor Beginn des Krieges und des Völkermordes in Gaza im Oktober 2023 hätten noch 1.000 Christen dort gelebt. In den ersten Wochen, als man noch aus Gaza herauskam, hätten mindestens 400 davon ihre Heimat verlassen. Damit existieren in Gaza gerade noch 600 Christen: in ihrem Leben bedroht wie alle Menschen dort.

Dramatisch sieht er auch die Situation in der Jerusalemer Altstadt. Viel zu viele Christen könnten die Lage dort nicht mehr ertragen: Angriffe durch extremistische Siedler, ökonomische Probleme und die ständige Herausforderung der Mobilität angesichts der vielen Straßensperren.

Grundsätzlich seien aber alle christlichen Gemeinden und alle historisch christlichen Orte, wie z.B. Bethlehem oder Ramallah, betroffen. Viele Christen würden sich für Auswanderung entscheiden, vor allem wegen der immer unerträglich werdenden Besatzung und infolge ökonomischer Benachteiligungen.  Er meint, dass es die Christen selbst seien, die an erster Stelle dagegen kämpfen müssten. Aber dazu brauchen sie die Unterstützung gerade auch von Muslimen. Der Verlust von Christen, so Abuna, sei ein Verlust für Palästina und für alle Palästinenser. Schließlich würden damit Muslime ihre Nachbarn, ihre Freunde, ihre Partner z.B. in Unternehmen verlieren.

Während Christen und Muslime unter ständigen Angriffen in der Jerusalemer Altstadt zu leiden haben, stehen derzeit die Armenier und die Aktionen israelischer extremistischer Siedler gegen sie – unterstützt von der rechtslastigen Stadtverwaltung von Jerusalem – im Mittelpunkt. Die Siedler wollen große Teile des armenischen Viertels konfiszieren. Mit einer großen Delegation stattete Abuna den bedrohten Armeniern einen Solidaritätsbesuch ab. Aber dies ist ein Thema für einen weiteren Brief aus Jerusalem.

Immer wieder betont er, dass die Lösung für die palästinensische Sache überfällig ist: nicht eine Lösung à la Netanjahu, der alles tut, um die Palästinenser los zu werden und der Landkarten zeigt, auf denen nur Israel zu sehen ist: „from the river to the sea.“ Jeder Mensch, egal wer er ist und wo er lebt, muss deshalb, so Abuna, die Palästinenser unterstützen. Denn es geht um Freiheit für Menschen, die schon viel zu lange jeglicher Rechte beraubt sind.

Woher kommt Abuna Atallah Hanna und wie gelangte er an die Spitze der palästinensischen griechisch-orthodoxen Gemeinde?Er stammt aus dem Dorf Rameh in Galiläa, gehört also zu den Palästinensern in Israel und hat einen israelischen Reisepass.Nach seiner Schulbildung in Rameh geht er nach Jerusalem, um dort Griechisch zu lernen. Sein Theologiestudium macht er im griechischen Saloniki. 1991 kehrt er nach Jerusalem zurück, wo er den Namen Theodosios erhält. Schon 1992 wird er als Priester ordiniert. Außerdem wird er zuständig für den palästinensischen Teil des Patriarchats und spricht in dessen Namen in der Öffentlichkeit. 2001 schließlich wird er zum offiziellen Sprecher des Griechisch-Orthodoxen Patriarchats in Jerusalem ernannt.  Wegen seines Engagements für die Rechte der Palästinenser, wegen seiner unerschrocken-klaren Kritik an der Besatzung, wird er sehr schnell zum Dorn im Auge Israels. Immer wieder wird er verhaftet und der Aufwiegelung angeklagt.Im Rahmen einer palästinensischen Delegation zum Weltkirchenrat in Genf redete er im Oktober 2000 vor dem UN Menschenrechtsrat: „Die palästinensischen Christen leiden, weil sie Palästinenser sind und in ihrer Heimat Palästina bleiben wollen.“ Er klagte Israel an wegen „ethnischer Säuberung gegen Araber, Muslime und Christen. Jeder meint, das sei ein Konflikt zwischen Arabern und Israelis. Keineswegs, es ist eine Besatzung Israels über die Palästinenser.“

Im Oktober 2001, mitten in der zweiten Intifada, nahm er an einem Marsch christlicher und muslimischer Führer von Jerusalem zum Militärkontrollpunkt vor Bethlehem teil als Protest gegen Israels Angriffe auf religiöse Stätten. Im selben Monat forderte er vom Menschenrechtsrat in Genf, dass dieser die Palästinenser von den israelischen Massakern retten und Druck ausüben müsse, damit die Blockade palästinensischer Städte und Dörfer aufgehoben wird. Im März 2002 wird er an der Allenby Brücke aus Jordanien kommend stundenlang festgehalten. Im August schließlich wird er in der Altstadt in Jerusalem verhaftet und zur Moskobiyeh gebracht. Man klagte ihn an wegen des Verdachts von Kontakten mit terroristischen Organisationen und dem illegalen Besuch von feindlichen Staaten (Syrien und Libanon). Das Verhör dauerte fünf Stunden. Die Antwort von Theodosius war sehr einfach: er muss Syrien und Libanon regelmäßig besuchen, um an religiösen Konferenzen und am inter-religiösen Dialog teilzunehmen. Bei diesen Reisen benutze er seinen vom Vatikan ausgestellten Pass. Israels konfiszierte daraufhin sowohl seinen israelischen als auch seinen Vatikan-Pass.

Theodosius protestierte, wo immer er konnte: in der Presse, in Konferenzen und bei öffentlichen Ansprachen. Er sprach im Klartext von einer Diffamierungs-Kampagne. Israel versuche, die palästinensische Sache als einen jüdisch-muslimischen Konflikt darzustellen. In Wirklichkeit aber wollten sie die kritischen christlichen Stimmen zum Schweigen bringen.

Seine Antwort darauf: „Wir haben immer darauf bestanden, dass die Kirche in Palästina allen Palästinensern dient, denn sie ist eine Kirche für die Menschen. Und es ist eine Kirche mit tiefen Wurzeln in diesem Land und in der dort lebenden Gesellschaft von arabisch-palästinensischen Christen und Muslimen.“ Abschließend wies er darauf hin, dass in Syrien über eine Million griechisch-orthodoxer Christen leben, im Libanon mehr als eine halbe Million. Kontakt und Betreuung dieser Glaubensbrüder sei notwendig.

Nach der Entlassung von Patriarch Irenaios, der des Verkaufs von Eigentum der Kirche an israelische Siedler angeklagt wurde, wird er vom neuen Patriarchen Theophilos III am 24. Dezember 2005 in der Grabeskirche in Jerusalem zum Erzbischof von Sebastia am griechisch-orthodoxen Patriarchat in Jerusalem ordiniert. Er ist erst der zweite Palästinenser in der Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, der dieses Amt bekleidet.

„Meine Botschaft an die Welt, so schließt er unser Gespräch, ist eine Botschaft der Liebe, ein Appell für Frieden, für die Unterstützung meines palästinensischen Volkes. Es geht um die Verteidigung meines unterdrückten und gepeinigten Volkes. Es geht um das Ende des Völkermordes in Gaza. Es ist eine Botschaft gegen Rassismus, gegen Hass, gegen das Böse, für Menschlichkeit und Brüderlichkeit. Diese Botschaft zu vermitteln, immer und immer wieder, ist meine Pflicht als Christ und als Mensch.“

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

von Helga Baumgarten

Dr. E’krima Sabri, Mufti und Prediger an der Aqsa-Moschee, hat sich noch nie gescheut, Unrecht klar und furchtlos zu benennen und zu kritisieren. Er hat immer darauf bestanden, dass die Aqsa-Moschee, der haram al-scharif in Jerusalems Altstadt, den palästinensischen Muslimen gehört. Die bis dato letzte Herausforderung kam von Israels Polizeiminister Itamar Ben Gvir, einem überführten Rassisten, als dieser am 26. August mit Hunderten von jüdisch-israelischen Extremisten auf den al-Aqsa Compound eindrang. Vor der israelischen Presse verkündete er, dass jüdische Gläubige das Recht zum Gebet und zum Bau einer Synagoge dort hätten. Er bestand darauf, dass eine neue israelische Politik zum Gebet von Juden auf dem Tempelberg gültig sei. Und er setzte noch ein i-Tüpfelchen auf seine Provokation für alle palästinensischen Muslime: „Wenn ich frei wäre, meine Wünsche durchzusetzen, hätten wir die israelische Fahne schon längst dort gehisst.“

https://www.haaretz.com/israel-news/2024-08-26/ty-article/.premium/ben-gvir-charts-explosive-vision-for-temple-mount-al-aqsa-compound/00000191-8dab-d8bf-a7f9-9fffd4540000

Dies steht in klarem Widerspruch zur israelischen Politik seit dem Juni-Krieg 1967. Der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan hatte gleich nach dem Krieg festgesetzt, dass der muslimische Waqf für den haram verantwortlich sei und dass der Status quo auf diesem für Muslime heiligen Ort erhalten werden müsse. Die israelische Regierung beschloss außerdem, dass Juden, die dort beten wollten, von der Polizei an die Westmauer („Klagemauer“) verwiesen werden.

Seit Jahren sind aber jüdische “Tempelberg-Extremisten“ aktiv. Der erste war Gershom Salomon, der in den siebziger und achtziger Jahren eine winzige Gruppe von „Temple Mount Faithful“ (die Getreuen des Tempelbergs) leitete, die einmal jährlich versuchte, den haram zu betreten, aber immer von der Polizei daran gehindert wurden. Inzwischen sind es Tausende, die zu den Tempelberg-Extremisten gehören und dort nicht nur beten, sondern auch den Tempel wiederaufbauen wollen.

https://www.haaretz.com/israel-news/2024-04-24/ty-article-magazine/.premium/the-israeli-extremists-who-want-to-rebuild-the-temple-and-the-ministers-who-back-them/0000018f-0f34-d97f-abcf-efbd07d50000

Die offizielle israelische Reaktion auf Ben Gvir wurde am klarsten von Verteidigungsminister Gallan artikuliert: „Den Status quo auf dem Tempelberg zu untergraben, ist unnötig und unverantwortlich. Ben Gvirs Aktionen bringen Israel in Gefahr.“ Allerdings hat die Regierung Netanyahu schon seit Jahren nichts dagegen unternommen, dass der geltende Status quo stillschweigend aufgeweicht wurde. Innenminister Moshe Arbel von der religiösen Shas-Partei forderte dagegen klar, dass Ben Gvir in seine Grenzen verwiesen werden müsse.

Am deutlichsten formulierten führende jüdischer Rabbiner ihre absolute Ablehnung:

„Wir glauben alle an einen Gott und wollen Frieden zwischen den Nationen. Wir dürfen es Extremisten nicht erlauben, uns zu führen“, so Israels ehemaliger Oberrabbiner Yitzhak Yosef, dem sich andere Oberrabbiner anschlossen. Fünf von ihnen veröffentlichten sogar ein Video, in dem sie alle Besuche von Juden auf dem Tempelberg/al-Aqsa verurteilten: „… diese Minister repräsentieren nicht das Volk Israel… Die meisten Juden in Israel und überhaupt weltweit würden nicht auf den Tempelberg gehen…“.

https://www.haaretz.com/israel-news/2024-08-15/ty-article/.premium/israels-former-chief-rabbi-criticizes-ben-gvirs-temple-mount-visit/00000191-5699-db91-a7dd-779981600000

Zwei Zeitungen der haredim (ultraorthodoxe Juden), Yated Ne’eman und Haderech, veröffentlichten Anzeigen, in dem sie Ben Gvirs Eindringen auf den haram scharf verurteilten. „Seit Generationen bestimmt die jüdische halacha, dass es Juden verboten ist, auf den Tempelberg zu gehen“. Eine der Anzeigen auf Seite eins war sogar sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch!

https://www.haaretz.com/israel-news/2024-08-27/ty-article/two-ultra-orthodox-newspapers-condemn-ben-gvirs-temple-mount-al-aqsa-compound-policy/00000191-9343-df0a-ab9f-f34b8ed00000

E’krima Sabri formulierte in einem Interview auf al-Jazeera sehr eindringlich seine Position: al-Aqsa ist ein heiliger Ort für den Islam, für alle Muslime, vor allem für palästinensische Muslime. Allein die Idee, dass dies von irgendeiner Seite bestritten oder herausgefordert werden könnte, ist Anathema. Bei meinem Besuch in seiner Wohnung in Ost-Jerusalem am vergangenen Mittwoch (4. September) analysierte er Ben Gvirs „Angriff“ auf al-Aqsa, wie er formulierte: Ben Gvir sei davon ausgegangen, dass die Palästinenser, die Muslime in der arabischen Region, in einer Position der Schwäche seien. Aus seiner vermeintlichen Position der Stärke heraus habe er den haram ohne die, laut bestehender Abmachungen, notwendigen Vertreter der waqf betreten. Er sei als Angreifer gekommen und nicht als Gast, der sich an die Regeln hält. Seine Erklärungen vor der Presse seien in sich widersprüchlich, da er das Gesetz einerseits, seine Interpretation göttlichen Gebots andererseits, als Rechtfertigung benutzt habe. Der Mufti wies deshalb Ben Gvirs „Angriff“ scharf zurück. Die Realität sei unzweideutig: al-Aqsa, al-haram al-scharif, sei ein heiliger Ort für den Islam. Er stehe damit über menschlichem Gesetz. E’krima Sabri erläuterte die extreme Situation, die den palästinensischen Muslimen durch die israelische Besatzung, insbesondere durch die derzeitige rechtsextreme Regierung, aufgezwungen wird. Gläubige werden immer wieder daran gehindert, zum Gebet den haram al-scharif zu betreten. Deshalb gibt es inzwischen eine religiöse Anordnung (fatwa), dass alle Muslime an der Stelle, wo sie von der Polizei am Weitergehen gehindert werden, beten sollen. Dieses Gebet ist dem Gebet in der Aqsa-Moschee gleichgestellt.

Nur wenige Tage zuvor, am 2. August, hatte E’krima Sabri während des Freitagsgebetes für die Seele des ermordeten Ismail Haniyeh, Vorsitzender des Hamas Politbüros, gebetet.

Die israelische Reaktion ließ nicht auf sich warten. Der Mufti war kaum in seiner Wohnung angekommen, als ein Großkommando von Geheimdienst, Polizei und Grenzpolizei in Armeeuniform dort auffuhr. Er wurde verhaftet und nach Westjerusalem in die Moskobiyeh, das zentrale Jerusalemer Gefängnis, gebracht. Man verhörte ihn, klagte ihn der Unterstützung des Terrorismus und der Aufhetzung an. In einem administrativen Beschluss der Polizei, der schließlich nach fünf Stunden erfolgte, wurde ihm das Betreten des haram al-scharif für sechs Monate verboten.

Die Solidarität, die er erhielt, war überwältigend:

Arabische Knesset-Abgeordnete wie Ahmed al-Tibi und Ayman Odeh, ehemalige Knesset-Abgeordnete wie Mohammed Barakeh ebenso wie Bürgermeister der palästinensischen Städte und Dörfer in Israel besuchten ihn. Zu den Besuchern gehörte auch Atallah Hanna, Erzbischof von Sebastia im Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Jerusalem. Der algerische Präsident Abd al Majid Tabbun rief ihn an, gefolgt vom türkischen Präsidenten Erdogan.

Ich fragte ihn nach der Reaktion aus Amman – schließlich ist Jordanien offiziell für al-Aqsa zuständig.  Der jordanische Außenminister habe Ben Gvir zwar öffentlich kritisiert, E’krima Sabri aber nicht kontaktiert.

„Und wer hat sie aus Ramallah angerufen?“, fragte ich abschließend.

E’krima Sabri antwortete mit fast süffisantem Lächeln: „Es scheint, dass die Nachricht dort nicht angekommen ist!“ Einen Tag vor unserem Treffen, also am 3. September, wurde der Scheich ein weiteres Mal von der Polizei zur Moskobiyeh gebracht zu einem erneuten Verhör. Wieder ging es um sein Gebet für Ismail Haniyeh. Der Scheich antwortete stereotyp auf die Fragen der Polizei: ich muss und kann im haram für jeden Muslim beten.Nach kurzer Zeit wurde er wieder im Polizeiauto nach Hause gebracht. Ob er in Ruhe gelassen wird, bezweifelt er allerdings.

Wer ist Akrima Sabri?

Seit 1973 ist er Scheich (khatib, also Prediger) in der Aqsa-Moschee. Yasir Arafat ernannte ihn 1994 zum Großmufti von Jerusalem. Diese Position behielt er bis Juli 2006. Nach der Ermordung von Arafat, setzte ihn dessen Nachfolger Mahmud Abbas (im Januar 2006 zum Präsidenten der Palästinensischen Autorität (sulta) gewählt) ab. Grund war wohl seine enorme Popularität, nicht zuletzt auf der Basis seiner klar formulierten Kritik an der israelischen Besatzung und deren Repressalien gegen Muslime auf dem haram.  Vor der Beerdigung Arafats in Ramallah hatte der Scheich eine kleine Tasche mit Erde aus einer Ecke des haram gefüllt. Als er vor dem Leichnam Arafats stand, bedeckte er diesen mit der heiligen Erde aus Jerusalem. Schließlich war es Arafats Wunsch gewesen, auf dem haram beerdigt zu werden. Nun begleitete ihn wenigstens Erde vom haram, dank der Aktion von E’krima Sabri.

Heute ist er khatib, also Prediger in al-Aqsa, und Präsident des Obersten Islamischen Rates.

Über die Jahre gab es immer wieder regelrechte israelische Angriffe gegen die Aqsa-Moschee und gegen Muslime auf dem haram. Das begann 1968 mit der Brandstiftung gegen al-Aqsa, als E’krima Sabri noch nicht in Jerusalem predigte. Bei allen anderen gewaltsamen Aktionen seitens Israels war er präsent, z.B. am 8. Oktober 1990, als die Polizei 24 Palästinenser erschoss und zahllose Weitere verletzte, oder im September 2000, als Ariel Sharon auf den haram eindrang und damit die Zweite Intifada auslöste. 2017 schließlich, als Israel den gesamten haram für fast zwei Wochen abriegelte und die Palästinenser daran hinderte, dorthin zum Gebet zu gehen, wurde er vor bab al-asbat (dem Löwentor) durch eine Kugel der Polizei am Fuß und am Rücken verletzt. Er war einer von Zehntausenden von palästinensischen Muslimen, die gegen diesen unglaublichen Eingriff in die religiöse Freiheit in Jerusalem protestierten. Sabri wurde im Krankenhaus medizinisch versorgt und schloss sich sofort wieder den Demonstranten an. “Als wir die enorme Gefahr für al-Aqsa erkannten, nicht zuletzt nachdem der Minister für interne Sicherheit Gilad Eldan arrogant die israelische Souveränität über den gesamten haram deklarierte, bildeten wir eine breite Koalition.“

„Obwohl die Menschen aus der Westbank daran gehindert wurden, nach Jerusalem zu kommen, waren ständig Tausende von Jerusalemern zum Protest-Gebet vor den Toren des haram…. Je brutaler uns die Israelis angriffen, desto mehr Leute schlossen sich uns an. …

Einen derartigen Massenprotest hatte es nie zuvor gegeben.“ Sabri konnte viele junge Menschen zur Teilnahme bewegen. Auch politische Führer, Akademiker und Aktivisten wurden mobilisiert. Ganz Jerusalem stand vereint hinter dem Scheich und sein Bestehen auf Einheit machte ihn noch populärer als er vorher schon war.

https://www.arabnews.com/node/1147561/middle-east

Diese jahrzehntelangen Erfahrungen machen E’krima Sabri stolz auf die Jerusalemer, stolz auf alle Palästinenser. Er betont, dass sie immer da sind, immer die ersten und die Wichtigsten bei jedem Protest, gerade auch heute angesichts von Völkermord, Zerstörungen des Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung. Er moniert, dass die Unterstützung aus der arabischen und islamischen Welt nicht groß genug ist.  Aber abschließend würdigt er die enorme Solidarität, durchaus auch im Westen, von den USA bis Europa, für die Palästinenser, speziell auch seitens der Studenten an den Universitäten weltweit.

Am Ende unseres Gesprächs betont er noch einmal seine Philosophie:

Man darf seine Überzeugungen nicht aufgeben. Man muss unverbrüchlich an ihnen festhalten. Denn das Recht ist auf unserer Seite.

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Stoppt die koloniale Gewalt gegen die Palästinenser

(Law in the Service of Man)

Von Helga Baumgarten

Shawan Jabarin ist derzeit rund um die Uhr beschäftigt. Trotzdem ist er bereit – kurz vor der Abreise zu einem wichtigen Termin in Spanien – mir als ehemaliger Birzeiter Kollegin von seiner kostbaren Zeit zu geben. Wir treffen uns in den Büros von al-Haq im Zentrum des alten Ramallah, im ersten Stock einer der christlichen Schulen der Stadt. Al-Haq sammelt seit Beginn des Völkermordes in Gaza Informationen zur Verletzung des Völkerrechtes in Palästina, speziell in Gaza, aber auch in Ost-Jerusalem und in der Westbank. Diese Informationen werden weitergereicht an internationale Menschenrechtsorganisationen, an den Internationalen Gerichtshof und den Internationalen Strafgerichtshof.

Seit dem frühen Morgen des 28. August konzentriert sich al-Haq auf den verheerenden, zerstörerischen und blutigen Angriff der israelischen Armee auf den Norden der Westbank: Jenin, Tulkarm und Tubas und Nablus sowie Hebron und die Flüchtlingslager im Süden der Westbank. Bis heute wurden wohl 38 Menschen getötet, darunter 9 Minderjährige,

durch Drohnenangriffe und Heckenschützen der Armee, so der Haaretz Aufmacher am 6. September. Das Leben dort ist zum Stillstand gekommen. Die Armee hat alles abgeriegelt, selbst Krankenhäuser. Krankenwagen werden nicht durchgelassen, Familienväter können keine Nahrung für ihre Familien besorgen, die Infrastruktur ist weitgehend zerstört und es gab die ersten Anweisungen an die Bewohner des Flüchtlingslagers Nur Shams bei Tulkarm und des Flüchtlingslagers Jenin außerhalb der Stadt Jenin, das Lager zu evakuieren:

Gaza ist in der Westbank angekommen. https://www.alhaq.org/advocacy/23785.html   

Eine der letzten Interventionen von al-Haq, am 6. August, war ein Bericht an den ICC (gemeinsam mit zwei weiteren palästinensischen Menschenrechtsorganisationen (PCHR, also Palästinensisches Menschenrechtszentrum, und Al-Mezan Zentrum für Menschenrechte aus Gaza). Sie argumentierten, dass der ICC berechtigt ist zur Anklage gegen israelische Staatsangehörige wegen Verbrechen, die auf dem gesamten 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebiet verübt wurden. Die Osloer Verträge bilden keinen Hinderungsgrund zur vollen Ausübung der Jurisdiktion des Gerichtes. Das schließt auch die Ausstellung von Haftbefehlen gegen israelische Bürger und Politiker nicht aus.

Al-Haq wies mit aller Schärfe eine vorherige britische Intervention zurück, in der GB die Meinung vertrat, der ICC habe als Folge der Osloer Verträge keine Jurisdiktion über israelische Staatsbürger wegen Rechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten. https://www.alhaq.org/about-alhaq/7136.html Der Beschluss (Advisory Opinion) des Internationalen Gerichtshofes zur israelischen Besatzung über Westbank, Ost-Jerusalem und den Gaza-Streifen vom 19. Juli 2024 hat das unwiderruflich bestätigt. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Besatzung nicht durch die Osloer Verträge aufgehoben wurde.186-20240719-sum-01-00-en.pdf

Entscheidend ist dabei Folgendes:

  • „Der ICJ kommt zum Schluss, dass Israels Politik und Praxis gegen internationales Recht verstoßen. Die Aufrechterhaltung dieser Politik und dieser Praxis sind ein illegaler Akt…“
  • „…die fortgesetzte Präsenz Israels im Besetzten Palästinensischen Territorium ist illegal…“
  • al-Haq nimmt diese Beschlüsse zur Grundlage seiner internationalen Interventionen, die das Ziel haben, die israelische Besatzung zu beenden.
  • Dabei stehen zwei Forderungen an vorderster Stelle:
  • Beendigung des Genozides in Gaza
  • Stopp der Gewalt und der ethnischen Säuberungen in Ost-Jerusalem und in der Westbank.

Shawan Jabarin geht davon aus, dass der Internationale Gerichtshof die eigentliche Arbeit zur Feststellung, ob Israel in Gaza Genozid verübt (nicht nur, wie im Januar festgestellt, dass es plausibel sei, Israels Aktionen in Gaza als Genozid zu bezeichnen) im Oktober 2024 aufnimmt. Er hofft – sehr optimistisch –  dass diese Arbeit nach etwa einem Jahr abgeschlossen sein wird.

Foto: Sami Darwish al-Kurd

Terrorismus-Beschuldigung durch Israel am 22.Oktober 2021 gegen sechs palästinensische Menschenrechtsorganisationen, darunter al-Haq

Jabarin kann sich das Lachen nicht verkneifen, als ich ihn darauf anspreche. Für ihn ist die Motivation Israels glasklar. Israel will um jeden Preis die Arbeit von Organisationen wie al-Haq verhindern. Al-Haq genießt weltweit einen ausgezeichneten Ruf. Die Berichte von al-Haq werden international wahrgenommen und geschätzt als verlässliche Informationen über Menschenrechtsverletzungen durch Israel, durch die Armee ebenso wie durch Siedler, in den Besetzten Gebieten, genauer im Staat Palästina, den 145 Staaten anerkennen, darunter inzwischen auch europäische Staaten wie zuletzt Norwegen, Spanien, Irland und Slowenien.

Al-Haq und an erster Stelle Jabarin trifft immer wieder verantwortliche Politiker und Staatschefs, um die Argumente von al-Haq zu kommunizieren.

UN-Menschenrechtsexperten in Genf forderten schon am 25. April 2022 Staaten und internationale Organisationen auf, die finanzielle Unterstützung der sechs Organisationen wiederaufzunehmen, da Israel keinerlei stichhaltige Beweise für seine Beschuldigungen vorgelegt habe. Deutschland und Österreich sind diesem Ruf nicht gefolgt, obwohl sowohl die EU als auch Deutschland als EU Mitglied keine Beweise von Israel erhalten haben.

Noch 2022 hat Österreich al-Haq den Bruno Kreisky Preis verliehen!

https://www.alhaq.org/advocacy/20191.html

Al-Haq wurde 1979 von den palästinensischen Rechtsanwälten Raja Shehadeh, Jonathan Kuttab und Charlie Shammas gegründet, also ganze 10 Jahre vor B’tselem. Das letzte Buch von Raja Shehadeh (2024), wurde inzwischen ins Deutsche übersetzt unter dem Titel:

Was befürchtet Israel von Palästina?: Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden.

Den englischen Titel veränderte der deutsche Westend Verlag, indem er hinzufügte: „Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden.“ Viel Hoffnung darauf hat Raja Shehadeh allerdings nicht angesichts des Völkermordes in Gaza. Und diese Auffassung teilt auch Shawan Jabarin.

Raja Shehadeh publizierte in den Jahren, als er al-Haq leitete, bis heute unverzichtbare Bücher. An erster Stelle ist hier zu nennen: „Occupier’s Law. Israel and the West Bank“. Es ist 1985 in einer ersten Auflage und 1988 in einer revidierten Auflage beim „Institute of Palestine Studies“ in Washington erschienen. Jonathan Kuttab ist nach wie vor im Aufsichtsrat von al-Haq. Er ist heute involviert in die Aktion von Mubarak Awad, der das Schiff „Handala“ mit Hilfsgütern nach Gaza bringen wird.

https://www.denia.com/de/llega-a-denia-el-handala-el-barco-de-la-flotilla-de-la-libertad-contra-el-genocidio-en-gaza

Mubarak Awad versuchte in den achtziger Jahren, die Philosophie Gandhis zur Gewaltlosigkeit in Palästina zu propagieren. Er wurde deswegen prompt von Israel ausgewiesen.

Foto:  Sami Darwish al-Kurd

2019 feierte al-Haq das vierzigjährige Jubiläum seiner Arbeit.

Diese Arbeit können Interessierte im Detail nachlesen in der Publikation von Lynn Welchman: „A Global History of the First Palestinian Human Rights Organization“. Das Buch wurde 2021 von der University of California Press publiziert. Es ist offen zugänglich und kann frei heruntergeladen werden.

https://webfiles.ucpress.edu/oa/9780520976900_EPUB.epub

Ein Artikel über al-Haq kann nicht enden ohne über Khalida Jarrar, derzeit in mörderischer Einzelhaft in Israel, zu schreiben. Ihre Tochter Soha arbeitete seit 2017 bei al-Haq und verstarb völlig unerwartet und viel zu früh – sie war gerade 30 -. Khalida Jarrar war zu diesem Zeitpunkt, 2021, wieder einmal in israelischer Haft. Ihre Rechtsanwälte beantragten die Erlaubnis, dass die Mutter an der Beerdigung der Tochter teilnehmen könnte. Israel lehnte ab.  Al-Haq intervenierte mit einer Eilaktion durch Appelle an viele Staaten und vor allem an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, um die Freilassung auf der Basis humanitärer Gründe zur Teilnahme an der Beerdigung zu erreichen.

https://www.alhaq.org/advocacy/18621.html

Auch diese Intervention stieß auf menschenverachtende Ablehnung durch das israelische Gefängnis-Regime. Heute müssen wir um das Leben von Khalida Jarrar fürchten.

Al-Haq teilt sich die Arbeit zu palästinensischen Gefangenen inzwischen mit ad-Dameer und die Organisation hat gerade einen Appell zur Lage von Khalida Jarrar veröffentlicht:

https://www.addameer.org/news/5391

„Die Lage ist bedrohlich. Aber wir werden weiter Widerstand leisten. Das Recht ist auf unserer Seite.“

Mit diesen Worten beendete Shawan Jabareen unser Gespräch.