Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Wer war Yahya Sinwar?

Von Helga Baumgarten

„Sinwar war ein brutaler Mörder und Terrorist, der Israel und seine Menschen vernichten wollte. Als Drahtzieher des Terrors am 7. Oktober brachte er tausenden Menschen den Tod und unermessliches Leid über eine ganze Region. Die Hamas muss jetzt sofort alle Geiseln freilassen und die Waffen niederlegen, das Leid der Menschen in Gaza muss endlich aufhören“, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 17.Oktober 2024. (https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2680608 )

Politische Führer weltweit überschlagen sich in ihrer Genugtuung über den Tod des „barbarischen Terroristen Yahya Sinwar, verantwortlich für die schlimmsten Gräueltaten“.

Wie üblich vergessen sie geflissentlich, dass es die israelische Armee ist, die den Gaza-Streifen zerstört und Zehntausende von Menschen getötet hat.

Wer war Sinwar?

Er ist am 29. Oktober 1962 im Flüchtlingslager Khan Yunis geboren. Nächste Woche wäre er also 62 Jahre alt geworden. Seine Eltern wurden 1948 aus ihrer Heimat Ashkelon (Asqalan auf Arabisch) vertrieben und fanden, wie weitere Zehntausende von Flüchtlingen, Zuflucht im Gaza-Streifen. Sinwar ging in Khan Yunis zur Schule und machte im Anschluss an das Abitur (tawjihi) einen Bachelor in Arabischer Sprache an der Islamischen Universität in der Stadt Gaza. An der Islamischen Universität trat er Anfang der achtziger Jahre in die Muslimbrüderschaft (MB) ein. Schon 1982 wurde er kurz (genau für vier Monate, so der offizielle Lebenslauf bei Hamas) verhaftet, allerdings ohne Anklage. 1985 war er einer der Gründer von Majd, der vormilitärischen Sicherheitsabteilung der MB. Als die israelische Armee 1988, nach der Gründung von Hamas im Dezember 1987, Waffen bei al-Majd fand, wurde er wieder kurz verhaftet, bis er schließlich 1989, nach einer erneuten Verhaftung, zu viermal lebenslänglich verurteilt, laut israelischen Angaben wegen des Mordes an Palästinensern, die von den Muslimbrüdern als Kollaborateure identifiziert worden waren. (Quelle:  Encyclopedia Britannica, 17.10.2024) (https://www.britannica.com/biography/Yahya-Sunwar )

Jon Elmer von der Electronic Intifada liefert (Electronic Intifada live am 23.10.2024) andere Informationen. Danach wurde Sinwar 1988 bei Jenin verhaftet und verurteilt wegen seiner Organisierung des bewaffneten Kampfes gegen die Besatzung. Diese Informationen finden sich sowohl im offiziellen Lebenslauf von Sinwar bei Hamas  https://hamasinfo.info/2024/08/07/3245/ 

als auch bei BBC (arabische Ausgabe: https://www.bbc.com/arabic/articles/c04032r14pzo.amp ).

Aus seiner Zeit in israelischer Haft stammt die erste wichtige Quelle, die uns erlaubt zu verstehen, wer Sinwar war und wie seine politischen Ziele aussahen. Es ist der autobiographische Roman „Dornen und Nelken“, den er in den Jahren seiner Haft verfasste und dessen Text stückweise aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde.

Tarif Khalidi, palästinensischer Emeritus Professor für Arabische und Islamische Studien an der American University of Beirut (er lehrte auch parallel an der Universität Cambridge, wo er 1996 zum Sir Thomas Adams’s Professor of Arabic and  zum fellow des King’s College sowie schließlich zum Direktor des Center of Middle Eastern Studies dort ernannt worden war), schrieb, zusammen mit Mayssoun Sukarieh vom Forschungskomitee des Institute of Palestine Studies, eine ausführliche Analyse dieses Romans.

(Mondoweiss, 4. Februar 2024) (link: https://mondoweiss.net/2024/02/leader-of-the-underground-tells-all/ )

Zentral für Sinwar war der Krieg 1967. Damals grub sein Vater ein tiefes Loch hinter ihrem Haus im Flüchtlingslager, wo sich die gesamte Familie versteckte, um zu überleben.

Israelische Besatzung bedeutet für ihn ausschließlich Widerstand gegen Besatzung. Dieser Widerstand durchlief Perioden des Auf und Ab. Darüber debattieren die Akteure des Romans ausführlich.

Dabei werden drei politische Linien sowie die Debatten unter diesen im Detail vorgestellt

  • Fatah
  • Linke marxistische Richtung
  • Islamistische Richtung

Dass der Erzähler zur pro-islamistischen Richtung gehört, wird deutlich. Allerdings stellt er die anderen Richtungen absolut objektiv dar.

Von 1987 bis heute durchlief die Hamas eine langsame Entwicklung hin zum Selbstverständnis als Teil des globalen anti-kolonialistischen Kampfes. Alle antisemitischen Klischees, anfangs übernommen vom westlichen antisemitischen Diskurs, wurden fallengelassen.

Erstaunlich, so Khalidi, dass Sinwar in seinem Roman aus einer frühen Periode von Hamas keinerlei antisemitische Einstellungen zeigt. Seine Hauptkritik, sein tiefsitzender Zorn ist gegen palästinensische Kollaborateure mit der Besatzung gerichtet. Dagegen ist Sinwar durchgängig tolerant gegenüber den Palästinensern aus Gaza, die in Israel arbeiten und von dort neue Ideen mitbringen. Das gilt auch für die Besuche von Israelis, die zum Beispiel zu Hochzeiten ihrer Angestellten nach Gaza kommen. Dabei ist absolut nichts von Antisemitismus zu lesen oder zu spüren.

Entscheidend für Sinwar ist der Widerstand gegen die Besatzung. Dabei geht es ihm vor allem um die Schaffung einer Infrastruktur des Widerstandes. Sinwar, so Khalidi, legt einen „geradezu obsessiven und gleichzeitig kreativen Schwerpunkt auf das Projekt des Baus einer Infrastruktur des Widerstandes, sowohl physisch als auch institutionell“.

Zum Bau dieser Infrastruktur gehören

o der Aufbau von Universitäten, also bei Sinwar z.B. die Islamische Universität in Gaza,

o der Bau von neuen Schulen überall im Gaza-Streifen

o die Schaffung eines Netz des Widerstandes zwischen Gaza und der Westbank

o die Gewinnung von Wissenschaftlern für die zentrale Aufgabe, im Lande selbst Waffen für den Widerstand herzustellen.

Eben darin, so Khalidi, liege sein „Erfolg als Anführer des Guerilla-Kampfes aus Gaza“.

Die zweite wichtige Quelle für alle, die nicht an Hetze, sondern an Informationen über Sinwar interessiert sind, ist das wohl letzte gefilmte Interview mit Sinwar in englischer Sprache, das Hind Hassan, eine Reporterin von Vice-News, im Mai 2021 in Gaza führte.

(https://www.instagram.com/hanood7sn/reel/C8HKu26i6XQ/ )

Sinwar erklärte ihr, dass der Angriff der Hamas in Richtung Jerusalem eine klare Botschaft an Israel gewesen sei. Schon Stunden später sei die Hamas bereit gewesen zu einem Waffenstillstand. Alle Vermittler hätten diese Information erhalten: Ägypten, Qatar und die UN. Die Botschaft sei klar gewesen: „Lasst die Aqsa Moschee in Ruhe, hört auf mit Gewalt und Häuserenteignung und Zerstörung in Jerusalem und speziell auch in Scheich Jarrah.

Hört auf, internationales Recht zu verletzen durch Eure Siedlungen, durch den Diebstahl von Land, durch die Blockade gegen Gaza, durch die Politik von Apartheid und rassistischer Diskrimination gegen die Palästinenser…“

Auf die Frage, ob der Krieg nun zu Ende sei, antwortet Sinwar:

„Der Krieg zwischen uns und der Besatzungsmacht… ist offen, ohne klares Ende…

Wir wollen keinen Krieg und keine Kämpfe, denn dies kostet Leben und unser Volk hat Frieden verdient. Lange Zeit haben wir friedlichen Widerstand geübt. Wir haben auf die internationale Gemeinschaft gesetzt … und gehofft, dass sie die Verbrechen und Massaker der Besatzung an unserem Volk stoppen würden. Leider hat die Welt tatenlos zugesehen, wie die Kriegsmaschinerie der Besatzung unsere jungen Leute getötet hat.“

Auf die Frage von Hassan, ob nicht auch die Hamas Kriegsverbrechen begangen habe mit dem Schießen von Raketen in israelisches Gebiet antwortet Sinwar:

„Israel hat die modernsten Waffen und bombardiert und tötet unsere Kinder und Frauen mit Absicht…. Sie können das nicht mit dem Widerstand derer vergleichen, die sich verteidigen mit vergleichsweise primitive Waffen. Wenn wir präzise Waffen hätten, würden wir nur militärische Ziele angreifen…

Was sollen wir also in Ihrer Meinung tun? Die weiße Flagge hissen?

Das wird nicht passieren. Erwartet die Welt von uns, dass wir Opfer sind, die sich gut benehmen, während sie getötet werden? Dass wir abgeschlachtet werden, ohne jeglichen Muckser. Das ist unmöglich. Wir haben entschieden, unser Volk mit den Waffen, die wir haben, zu verteidigen.“

Die Reaktion auf den Tod Sinwars in der palästinensischen und arabischen Gesellschaft unterscheidet sich diametral von der anfangs zitierten westlichen Reaktion. Für die Mehrzahl der Palästinenser, Araber und generell der Menschen im globalen Süden wurde Sinwar durch seinen Widerstand, durch seine aktive Teilnahme am Kampf der Palästinenser gegen die israelische Armee in Gaza bei der Durchführung ihres Völkermordes und ihrer brutalen Zerstörungskampagne zu einem historischen Helden, zur Ikone des Widerstandes. Vergleichbar war er nur noch mit Scheich Izzedin Qassam, dem ersten Kämpfer gegen den britischen Kolonialismus und den jüdischen Siedlerkolonialismus, der Ende 1935 bei Jenin erschossen wurde, und letztlich mit Che Guevara, der – vielen unbekannt – Gaza in den fünfziger Jahren besucht hatte. Wie al-Jazeera auf dem arabischen Kanal nicht müde wurde zu betonen und durch Video-Aufnahmen zu zeigen, starb Sinwar nicht, wie die israelische Propaganda immer verbreitete, versteckt hinter den Geiseln in den Tunneln unter Gaza. Er starb im direkten Kampf gegen die Armee. Er beschoss sie mit Granaten und gab bis zu seinem Tod den Widerstand nicht auf. Die Videos, die von israelischen Soldaten über Social Media unzensiert ins Netz gelangten, zeigen ihn, wie er mit dem linken Arm – sein rechter Arm war schon zerfetzt – einen Stock gegen die Drohne warf, die versuchte Bilder aufzunehmen im Gebäude, in das er nach den ersten Verletzungen geflüchtet war, um von dort weiter zu kämpfen mit den verbliebenen Granaten.

Danach kam ein neuer Angriff der Armee gegen das gesamte Gebäude, das über ihm zusammenstürzte und ihn tötete. Auf Electronic Intifada können diese Szenen im Bericht von Jon Elmer vom 23.Oktober 2024 nachverfolgt werden. Inzwischen kursieren Bilder überall im Netz, in denen das Schleudern von Stöcken gegen Drohnen der israelischen Armee als Zeichen des ungebrochenen Widerstandes gegen den Völkermord in Gaza kodifiziert wird.

Schließlich wurde ein neues arabisches Sprichwort kreiert: Sinwars Stock.

Sinwars Stock repräsentiert das Durchhalten in den schlimmsten Situationen, den Willen, nicht aufzugeben, auch gegenüber unüberwindlichen Herausforderungen. Es bedeutet, dass man alles versucht hat und dass man am Schluss nur noch diesen Stock hat um Widerstand zu leisten.

„Ich habe Sinwars Stock geworfen“ heißt, dass man alles gegeben hat, um sein Ziel zu erreichen.

Israels völkermörderische Armee hat aus Sinwar eine neue Ikone für den palästinensischen Widerstand, für den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und ein Ende der Unterdrückung geschaffen.

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Ein Jahr Genozid in Gaza. Die israelischen menschenverachtenden Angriffe gehen ohne Unterbrechung weiter. Zuletzt die erschütternde Meldung: Israel will Ärzte und Pfleger im Kamal Adwan Krankenhaus im Norden des Gazastreifens zwingen, das Krankenhaus zu verlassen und ihre Arbeit dort aufzugeben. Aber Direktor Dr.Hossam Abu Safia weigert sich:

„Solange wir Patienten haben, werde ich nicht gehen….Ich bin hier seit Beginn des Völkermordes und ich bin fest entschlossen, weiter meinem Volk zu helfen.“

Israel plant, den gesamten Norden des Gaza-Streifens ethnisch zu säubern, sprich alle Menschen dort – also mindestens 400.000 – zu vertreiben.

https://www.theguardian.com/world/2024/oct/10/catastrophic-situation-childrens-hospital-israel-renews-gaza-attacks

Seit einem Jahr läuft die Mord-und Zerstörungsmaschine „israelische Armee“ in Gaza: Menschen und vor allem Kinder, Ärzte, Journalisten und nicht zuletzt Intellektuelle und Professoren sowie deren Studenten. Im Gazastreifen steht keine Universität mehr. Studentinnen und Studenten können nicht mehr studieren.

www.birzeit.edu

Hier setzt die Universität Birzeit ein mit ihrem Aufruf „Rebuilding Hope“, neue Hoffnung für Universitäten und Studenten in Gaza. Der Aufruf zeigt deutlich, wie in Birzeit das vergangene Jahr verstanden wird: Der Versuch, die einheimischen Palästinenser regelrecht auszulöschen durch den zionistischen Siedlerkolonialismus. In diesem Kontext, so der Aufruf weiter, werden „Institutionen mit massiver Gewalt attackiert, jede Infrastruktur wird zerbombt; die Kultur wird zerstört, um die schlichte Existenz einer kollektiven nationalen Identität zu verhindern, … einschließlich jeder nationaler politischer Zukunft.“

https://www.birzeit.edu/en/rebuilding-hope

Hier sieht sich die Universität Birzeit gefordert, „moralisch wie national“. Sie muss und will eine aktive Rolle in Gaza ergreifen, aufgebaut auf der Vision zweier Konzepte: „institutional mutual reinforcement“, also gegenseitige institutionelle Stärkung, „indem sie Universitäten in Gaza, Akademiker und Studenten dort unterstützt, damit diese wieder ihre zentrale Rolle in der Gesellschaft aufnehmen können“. Das zweite Konzept ist „der Versuch, neue Hoffnung in Gaza zu ermöglichen, trotz der genozidalen Zerstörung“.

Birzeit sieht sich verpflichtet, voranzugehen in der Konfrontation des Siedlerkolonialismus und seiner Logik der Eliminierung aller Palästinenser. Das bedeutet nicht zuletzt die Betonung der Standhaftigkeit gegenüber diesen Herausforderungen. Deshalb unterstützt Birzeit alle Universitäten in Gaza mit „institutioneller Synergie, Universitätsbildung sowie der Schaffung transformativen Wissens, das lokal verankert ist und in direkter Verbindung zu den materiellen und sozialen Voraussetzungen für den Wiederaufbau Gazas steht.“

Birzeit sieht sich als „das Zentrum für palästinensische, arabische und internationale Initiativen zur Unterstützung der universitären Bildung in Gaza“.

An erster Stelle steht die Herstellung von Partnerschaften mit Universitäten in Gaza. Birzeit will eine regelrechte globale Koalition von Universitäten schaffen, die Akademiker in Gaza unterstützen, damit sie dort bleiben und ihre Universitäten wiederaufbauen können.

Birzeit: die älteste Universität in Palästina

Zweitens muss eine enge Zusammenarbeit entstehen zwischen akademischen Lehrern in Birzeit und weltweit und ihren Kollegen in Gaza. Das heißt auch, dass Studenten in Gaza ein regelrechtes Fernstudium aufnehmen können auf hohem akademischen Niveau. Studenten brauchen dazu sowohl psychologische wie soziale Unterstützung. Ihre Abschlussarbeiten, ihre Master-und Ph.D. Thesen müssen betreut werden. Birzeit ist bereit, Studenten auch physisch in Birzeit aufzunehmen in dem Moment, in dem diese wieder aus Gaza ausreisen können.

Transformative Forschung ist das dritte Ziel, das Birzeit mit seiner Intervention anstrebt. Nur damit kann Gaza „materiell, sozial, kulturell und ökologisch wiederaufgebaut werden“. Dieser Aufbau, und das ist entscheidend, kann nur im lokalen kulturellen Kontext und auf der Basis palästinensischer politischer Souveränität erfolgen. Wiederaufbau durch internationale, letztlich koloniale Interventionen auf der Basis der Logik von Macht ist nicht nur kontraproduktiv; jeder Versuch in diese Richtung muss entschieden zurückgewiesen werden.

Am Schluss steht ein Aufruf an Studenten aus Gaza: macht hier einen Klick und füllt Eure Bewerbung zum online-Studium in Birzeit aus.

„Unser Wille ist unerschütterlich… Wir alle sind Gaza“. Damit endet Birzeits „Rebuilding Hope“.

Die Al Quds Universität in Gaza…

In Gaza gibt es traditionell zwei große Universitäten: die Islamische Universität und die Azhar Universität. Die Islamische Universität war die erste Universität in Gaza, als sie 1978 gegründet wurde. Sie wurde immer wieder von der israelischen Armee bombardiert, sowohl im Krieg 2008/9 als auch im Krieg 2014. Die totale Zerstörung erfolgte im Krieg seit dem Oktober 2023. Ihr Präsident, Professor Sufyan Tayeh, wurde zusammen mit seiner gesamten Familie im Jabaliya Flüchtlingslager ermordet … einer von zahllosen Akademikern und Intellektuellen.

Die Al-Azhar Universität wurde 1991 etabliert. Beide Universitäten liegen einander direkt gegenüber in der Stadt Gaza. Nach Abzug der israelischen Siedlungen und der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen 2005 wurden Ableger beider Universitäten in Khan Yunis in den ehemaligen Siedlungsgebieten errichtet, vor allem für die Studenten aus dem Süden bis hin nach Rafah.

Die drittgrößte Universität ist die al-Aqsa Universität, an der speziell zukünftige Lehrer studieren. Sie wurde genau wie al-Azhar 1991 gegründet (nach einigen Angaben existiert sie wohl schon seit 1955).

Im Mai traten diese drei Universitäten mit einem emergency Komitee an die internationale Öffentlichkeit. Ihr Ziel war/ist es, internationale Unterstützung zu bekommen, damit alle Universitäten in Gaza zum frühest möglichen Zeitpunkt wieder lehren und forschen können.

Daneben gibt es mindestens sieben weitere größere und kleinere Universitäten und Colleges. Laut offiziellen Angaben studieren etwa 100.000 junge Menschen aus Gaza an diesen Universitäten und Colleges.

Alle wurden seit dem Oktober 2023 von der israelischen Armee in Grund und Boden gebombt bzw. mit Sprengstoff in die Luft gejagt und zerstört.

Im Bericht „Scholasticide“ der  Menschenrechtsorganisation al-Mezan in Gaza vom zweiten September 2024 lesen wir von mehr als 10.000 getöteten Schülern und Studenten und von mehr als 500 getöteten Lehrern und Professoren.
https://www.mezan.org/en/post/46514

Auch die Universität Bethlehem, genau wie Birzeit eine christliche Gründung, an der ebenso wie in Birzeit die Mehrzahl der Studenten Muslime sind, ruft auf zur solidarischen Unterstützung der Universitäten in Gaza. Der Vize-Präsident der Universität, der einzigen katholischen Universität im besetzten Palästina, Brother Hernán Santos González, PhD, formuliert klar und unzweideutig:

„Der 7. Oktober zeigte der Welt unübersehbar die Gewalt, das Unrecht und die Tötungen, die seit über siebzig Jahren illegaler Besetzung der palästinensischen Gebiete das Heilige Land heimsuchen.“ … „Wie Papst Franziskus… sagte, Gewalt, Unrecht und Tötungen begannen nicht am 7. Oktober…” “Der Nahe Osten braucht keinen Krieg, sondern Frieden, Frieden auf der Basis von Gerechtigkeit, Dialog und dem Mut zu Brüderlichkeit”, so die Worte des Papstes.

„… die grauenhaften Angriffe auf Gaza führten zu 50.000 Toten, darunter mehr als 11.000 Kinder. Alle zwölf Minuten wird ein Mensch in Gaza getötet. Es war ein Jahr des Todes und der Zerstörung, in der Westbank, in Gaza, in Jerusalem und zuletzt im Libanon. Unser Land steht unter Militärbesatzung und unsere Gemeinden müssen die Auswirkungen von Krieg und illegaler Besatzung ertragen. Das Leid hat unvorstellbare Ausmaße angenommen.“

Der Vize-Präsident fordert die Leser seines Briefes zu einem Jahr Krieg und Völkermord in Gaza auf, sich dem Aufruf des lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pizzabella, sowie des Papstes anzuschließen im einem Tag des Gebetes und des Fastens für Frieden in der Welt, ganz besonders aber im Nahen Osten.“

Abschließend betont Bruder Gonzalez „die Rolle der Universität in ihrem Dienst an der Menschheit im Zeichen von Menschlichkeit. Die Universität ist dem Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden verpflichtet. Erziehung und universitäre Bildung sind unser Weg zum Aufbau einer Gesellschaft, in der alle in Würde, Sicherheit und Frieden leben können, unabhängig von Nationalität, Religion oder politischer Einstellung.“

„Die Universität Bethlehem erzieht zu kritischem Denken, damit sie …Bürger heranbildet, die der Wahrheit, der Gerechtigkeit und dem Allgemeinwohl verpflichtet sind.

Die Welfare Organisation (Taawun) https://taawon.org 

aus Ramallah schließlich hat ein neues Programm gestartet zur Unterstützung von Studenten und Universitätserziehung in Gaza.

Ziel ist die Bereitstellung von 16 Millionen US Dollar, damit 30.000 Stipendien für zwei Semester vergeben werde können. 15.000 Studenten in Gaza sollen über ein Fernstudium ihre Universitätsbildung weiterführen können. Palästinensische Universitäten in Gaza sollen erhalten bleiben und weiterentwickelt werden.

„Sie sind entschlossen weiterzumachen… Ihr könnt sie dabei unterstützen.“

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Von Helga Baumgarten

Zum Fest der Internationalen Solidarität treffen sich Aktivisten aus der ganzen Stadt. Viele sind von weither angereist, um mit dabei zu sein. In diesem Jahr gilt die Solidarität den Palästinensern, allen voran den Palästinensern in Gaza.

„Der jahrzehntelange Kampf des palästinensischen Volkes gegen Besatzung und für Selbstbestimmung ist ein gemeinsamer Kampf aller Werktätigen und progressiven Kräfte weltweit.

Angesichts des anhaltenden Völkermords in diesem Land durch die zionistische Regierung in Israel müssen wir an der Seite Palästinas stehen und die Würde der Menschheit verteidigen. Denn dieser Kampf ist ein gerechter Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus, gegen Vertreibung und Ausrottung, für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes…“

Deutsche mit türkischer und kurdischer Herkunft, Menschen, die für die Freiheit Kubas von der US-amerikanischen Unterdrückung kämpfen, Junge und nicht so Junge, die Solidarität mit Palästina üben und überall und immer wieder fordern, alle stehen an diesem Samstag zusammen im Clara Zetkin Waldheim etwas außerhalb von Stuttgart.

Atiya R. aus Gaza ist mit dabei. Er kam Anfang der Achtziger Jahre zum Studium nach Deutschland und machte seinen Abschluss als Bauingenieur in Stuttgart. Dort war 1982 als Reaktion auf das Massaker von Sabra und Shatila das Palästinakomitee gegründet worden.

Atiya schloss sich dem Komitee an, wo er auch auf seine spätere Frau Verena traf. Damals demonstrierten Menschen aus allen Parteien gegen dieses Massaker und für die Palästinenser. Und es waren große, eindrucksvolle Demonstrationen, an denen Tausende mitmarschierten: Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Deutsche, Türken, Palästinenser.

Bald jedoch, so bedauernd Atiya in unserem Gespräch am Rande des Festes, begannen Richtungskämpfe, die bis heute nicht gelöst werden konnten. Entsprechend kleiner sind auch die Demonstrationen geworden: manchmal nur 100 oder 200 Teilnehmer, an den besten Tagen sind es 500. So viele erwartet er am 7.Oktober, dem Tag der Erinnerung an Ein Jahr Völkermord in Gaza.

Mit dabei sein werden das Palästinakomitee, die Gruppe „Palästina spricht“, viele junge und ältere nicht organisierte Palästinenser, Deutsche, Türken, Syrer, Kurden und Menschen aus Lateinamerika und Afrika.

Auch Annette Groth wird am 7. Oktober demonstrieren. Vorher fährt sie aber am 5. Oktober zum in Wien geplanten Palästina-Kongress, bei dem der palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta, der griechische Politiker Yanis Varoufakis, die israelische Journalistin Amira Hass und der israelische Historiker Ilan Pappe reden sollen.

Annette Groth bringt ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit. Sie wurde 2010 zunächst von Pax Christi auf das Solidaritätsschiff nach Gaza hingewiesen. Sie fand das eine wichtige Aktion und fuhr schließlich im Mai 2010 von Stuttgart aus mit der Mavi Marmara, die in Zypern ihre Fahrt begann, nach Gaza. Vielmehr versuchte sie, zusammen mit internationalen Aktivisten, darunter auch fünf Deutsche: Norman Paech (ehemaliger Abgeordneter der Linken), Inge Höger (MdB Die Linke), Mathias Jochheim (IPPNW), Nader al-Sakka (der einzige Deutsch-Palästinenser in der Gruppe) und eben Annette Groth (MdB Die Linke), auf diesem Schiff Hilfe nach Gaza zu bringen und die israelische Blockade Gazas zu durchbrechen. Der Versuch endete sehr blutig: die israelische Armee kaperte das Schiff und tötete dabei neun türkische Aktivisten. All dies ist für sie, als sei es erst gestern passiert:

„Es war wie ein Krieg. Sie hatten Gewehre, schossen mit Tränengas – auf unserer Seite wurden nur einige Holzstöcke zur Verteidigung benutzt… Wenn die israelische Armee diesen Angriff als Selbstverteidigung stilisiert, dann ist das schlicht lächerlich.“

Zum Abschluss des Festes wird der Film „Not Just Your Picture“ (deutsch) gezeigt.

Der Film erzählt die Geschichte der Geschwister Layla und Ramsis Kilani , die in Siegen aufgewachsen sind und in Deutschland leben. Nachdem die Ehe mit der deutschen Mutter auseinandergegangen war, ging ihr palästinensischer Vater Ibrahim zurück nach Gaza.

Im israelischen Krieg gegen Gaza im Jahr 2014 wurden der Vater Ibrahim, dessen fünf in Gaza geborene Kinder und dessen zweite Frau bei der Bombardierung eines Hochhauses getötet. Im Film geht es um den Einsatz der Geschwister Layla und Ramsis für Gerechtigkeit für die Familie Kilani.  https://www.filmpodium.ch/film/171007/not-just-your-picture 

Für Annette Groth geht es, wie schon oben erwähnt, am 5. Oktober weiter: Palästina-Kongress in Wien. Werden die Wiener da erfolgreich sein, wo Berlin gescheitert ist bzw. wo die Berliner Unterdrückung so massiv war, dass der Kongress schon in den Anfangsminuten gestoppt wurde?

Die Wiener haben daraus gelernt. Der Veranstaltungsort wurde lange regelrecht geheim gehalten. Aber als am 4. Oktober die Informationen rausgehen mussten, schaltete sich die Stadt Wien ein: Kein Palästina-Kongress. Sie hatte jedoch nicht mit den Wiener Solidaritätsaktivisten gerechnet. Die hatten Plan B in der Tasche: der Kongress fand statt mit allen angekündigten Teilnehmerinnen und Teilnehmern: von Amira Hass bis Azzam Tamimi, von Hebh Jamal bis Haneen Zoabi und vielen, vielen mehr. Nur Dr. Ghassan Abu Sitta musste sich entschuldigen. Seine Arbeit in Beirut, die Versorgung der zahllosen Verletzten durch die brutalen israelischen Bombardierungen ist wichtiger.

Aber zurück nach Stuttgart.

Nicht nur die beschämende Realität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Pro-Völkermord Regierung in Berlin, auch die eigene Vergangenheit verbindet Stuttgart in schrecklicher Weise mit Gaza: Gaza, dem größten Kinderfriedhof der Welt seit Beginn des Völkermordes vor einem Jahr.

In Stuttgart trauern die wenigen, die davon wissen, um die Kinder der sowjetischen Zwangsarbeiter, die in und um Stuttgart „im Lager geboren und gestorben“ sind. Darüber erfahren wir im erschütternden Buch von Karl-Horst Marquart, erschienen 2024 und angeregt von den Stolperstein Initiativen, den Bürgerprojekten gegen Gewalt und Vergessen und den Anstiftern. (Erschienen im Verlag Peter Grohmann Nachfolger. Stuttgart).

Ein Stolperstein wurde auch für Christian Elsässer verlegt. Er ist einer der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter, die den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und ihren Kindern geholfen haben. Was ist die Geschichte von Christian Elsässer? 1943, kurz nach dem Sturz von Mussolini, wurden italienische „Kriegsgefangene nach Deutschland transportiert und dort in der Kriegsindustrie eingesetzt. Einige Hundert waren auch bei der Firma Bosch beschäftigt.

Anfang 1944, die Luftangriffe auf Stuttgart hatten schon einen ersten Höhepunkt erreicht, drängten sich wie üblich zahlreiche deutsche Arbeiter und italienische Kriegsgefangene an den Schalter, an dem der Kollege Elsässer das Essen und Trinken ausschenkte. Ein deutscher Arbeiter stürmte nach vorn und beschwerte sich, dass die italienischen Kriegsgefangenen genauso schnell abgefertigt würden wie die „Deutschen“. Das sei doch unerhört und der Kollege Elsässer solle doch dafür sorgen, dass erst die Deutschen bedient werden und dann erst die Verräter.“

Elsässer reagierte mit schwäbischer Direktheit:

„Mir sind kriegsgefangene Italiener am Arsch lieber als ihr Nazis im Gesicht.“

Innerhalb weniger Tage wurde Elsässer verhaftet. Im Sommer 1944 wurde er zum Tod durch Schafott verurteilt.

(Tilman Fichter, Eugen Eberle. 1974. Kampf um Bosch. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. S.158).

Die Palästina-Solidarität in Stuttgart geht weiter. Am Montag, 7. Oktober, wird demonstriert „gegen den inzwischen 12 Monate andauernden israelischen Genozid in Gaza und gegen den israelischen Krieg im Libanon. Wir demonstrieren und protestieren dabei auch gegen die inzwischen 76 Jahre andauernde Nakba (ethnische Säuberung und Vertreibung der Palästinenser:innen), Siedlerkolonialismus und Apartheid, in deren Zusammenhang die Ereignisse des 7. Oktobers gesehen werden müssen und die einen neuen erschreckenden Höhepunkt im genozidalen Krieg gegen Gaza erreicht haben, wobei die israelische Besatzungsmacht inzwischen auch mit extremer Brutalität in der Westbank vorgeht.    

Den Libanonkrieg führt der Staat Israel ebenfalls mit massiven tödlichen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung. Dies ist auch Ausdruck der ultrarechten und rassistischen Kräfte, welche die Politik des Staates Israel bestimmen. Die Unterstützung vor allem durch die USA und die Bundesrepublik verstärkt diese rechtsextremen Kräfte und gefährdet die gesamte Region“.

Leider mischen sich einige Wehrmutstropfen in die eindrucksvolle Solidarität, die gerade heute mehr denn je gefordert ist. Immer wieder können sich verschiedene Organisationen nicht zusammenraufen bzw. boykottieren sich regelrecht gegenseitig. In Stuttgart gab es deshalb gleich zwei Demonstrationen: eine am Sonntag, 6. Oktober, angeführt von Palästina spricht: sehr eindrucksvoll mit großartigen Parolen und Forderungen.

Die nächste am Montag, angeführt vom Palästinakomitee, mit der bewegenden Rede von Fanny-Michaela Reisin von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Sie war extra aus Berlin angereist.

Kooperation zwischen allen Richtungen aus der Solidaritätsbewegung ist das Gebot der Stunde. Der Druck von oben wird, gerade auch in Deutschland, aber überall in Europa und in den USA, immer massiver, ja nimmt gerade perverse Formen an. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen entblödet sich nicht, eine Demonstration zu verbieten, an der Greta Thunberg teilnehmen soll. Begründung: Sie sei „gewaltbereit“!!!

Im Deutschland des Jahres 2024 sind Palästina-Solidarität und Greta Thunbergoffensichtlich gefährlicher für die Demokratie (bzw. das, was in Deutschland davon noch übriggeblieben ist!) als die AfD und ihre rassistisch-faschistoiden Schergen.

https://www1.wdr.de/nachrichten/polizei-dortmund-greta-gewaltbereit-100.html

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Völkermord in Gaza… Perspektiven für eine Lösung

Das Thema zieht viele Interessierte in Basel an. In den üblichen Veranstaltungsorten redet man sich heraus: wir sind für diesen Tag schon belegt. Aber am Rande von Basel, leicht erreichbar aus der Innenstadt, hat sich ein aufgeschlossener Pfarrer bereit erklärt, den Saal seiner Gemeinde bereitzustellen. Der Saal wird voll.

Und er wird voll trotz der Rolle, die Basel für die Entstehung des Zionismus gespielt hat.

1897, also 127 Jahre vor meinem Vortrag zum Völkermord, findet im Casino Basel der Erste Zionistische Kongress statt, auf dem der Zionismus als Bewegung gegründet wird. Theodor Herzl, der ein Jahr zuvor seine programmatische Schrift „Der Judenstaat“ publiziert hatte, übernachtete im (bis heute) besten Hotel der Stadt, dem Hotel „Drei Könige“. Auf dem Balkon des Hotels wurde das historische Bild Herzls vor dem Rhein und der Rheinbrücke aufgenommen, mit seinem visionären Blick in die Zukunft

Aber die Zeiten ändern sich. Herzl hat die Nase voll von Israel, wie wir von B. Michael in Haaretz erfahren. B. Michael besuchte nämlich Herzls Grab auf dem Herzls-Berg in Jerusalem. Und dort fand er die Überraschung seines Lebens:

Herzl stand, voll gekleidet in seinem bekannten Gehrock, der Zylinder noch abgelegt auf dem Mausoleum, neben dem Grab.

https://www.haaretz.com/opinion/2024-08-12/ty-article-opinion/.premium/what-theodor-herzl-would-say-about-todays-israel/00000191-47c1-d5d7-a3bf-e7e34c760000

Die erste schockierte Frage von B. Michael: was machen Sie denn, Herr Herzl. Herzl klärte ihn auf: „ich bin ein deutscher Jude und hinterlasse kein Chaos“, dabei faltete er sorgfältig sein Leichentuch zusammen. Und dann zeigte er auf seinen Gehrock: „Sehen Sie: Das ist beste Wiener Qualität. Ich hatte darauf bestanden, dass die Kleidung mit mir ins Grab gelegt wird. Und jetzt: wie neu!“

Als nächstes fragte B. Michael, immer noch unter Schockeinwirkung: Wie sind sie denn aus dem Grab gekommen?

Herzl antwortete: „Natürlich grub ich einen Tunnel, wie das heute jeder macht!“

Die Ermordung Rabins im November 1995 habe ihn dazu gezwungen. Diese Ermordung habe alle seine Visionen für einen jüdischen Staat zerstört. Schließlich, so meint er, habe er nicht nur die programmatische Schrift „Der Judenstaat“ geschrieben, sondern vor allem das Buch „Altneuland“, in dem seine Visionen zu lesen sind.

Und seine Vision für den Judenstaat sei „ein aufgeklärter Staat gewesen, Gleichheit unabhängig von Nationalität, Religion oder gender. Ein Staat, in dem die Generäle in den Kasernen und die Priester in den Synagogen bleiben müssen. Ein Staat, der sich der Gefahren, die von Nationalismus, extremistischer Religion und Rassismus ausgehen, bewusst ist.“

„Und was habt Ihr hier daraus gemacht“, so Herzls rhetorische Frage, und er ist erschüttert, als er sie stellt:

„Genau das Gegenteil. Einen Mülleimer von Rassismus, Nationalismus, Militarismus, Hass, religiöser Eifer, Diskrimination von Frauen, Grausamkeit, Tyrannei, Korruption. Rabbiner in den Kasernen und Generäle in den Synagogen.“

Und er schließt entrüstet:

„Und ich soll dafür verantwortlich sein! Nein!“

Jetzt wolle er weg von hier, um im einfachen Mausoleum seiner Familie in Wien auf dem Döblinger Friedhof endlich seine Ruhe zu finden.

Damit wendet er sich an B.Michael: „Wie komme ich von hier zum Ben-Gurion Flughafen?“

„Es gibt keine Flüge“, so die Antwort von B. Michael.

„Scheiße,“ murmelte Herzl, „jetzt hat man mich schon wieder verarscht“, und damit legt er seinen Zylinder wieder ab.

In Basel gibt es seit 1997 eine sehr aktive Palästina-Bewegung. Sie entstand als Gegenveranstaltung zu 100 Jahren Zionismus-Kongress. In der Bewegung sind neben Schweizer Bürgern auch arabische und jüdische Oppositionelle (mit oder ohne Schweizer Pass) organisiert.

2004 wurde das Palästina-Komitee gegründet, heute bekannt unter dem Namen „Palästina-Solidarität Basel“. Sie geben eine eigene Zeitschrift heraus: „Palästina Info“. Außerdem haben sie ihre eigene Webseite, auf der ihre regelmäßigen Veranstaltungen angekündigt werden.

Wichtig für sie ist die uneingeschränkte Unterstützung der BDS Bewegung (boycott, divestment, sanctions): Boykott, Abzug aller Investitionen aus Israel und den Besetzten Gebieten, Sanktionen.

Seit 2023 versuchen sie, sich landesweit zu vernetzen in einem breiten Bündnis von christlichen Aktivisten bis hin zu radikalen Linken. Sie wollen breit und heterogen weitermachen und nicht zuletzt junge Leute und studentische Aktivisten einschließen.

Schon am 24. Januar organisierten sie eine Großdemonstration gegen den Genozid in Gaza. 6.000 Menschen nahmen teil. Während des Ramadan fand ein „Eid für Frieden“ (Fest für Frieden) statt. Es gab ein gemeinsames Essen (Iftar) und dabei wurden 20 000 $ gesammelt für die UNRWA. Das war eine klare Gegenaktion gegen die offizielle Schweizer Politik, die UNRWA nicht mehr finanziell unterstützt, obwohl der UNRWA Generalsekretär Schweizer ist, Philippe Lazzarini.

Für den 5. Oktober ist eine landesweite Demonstration geplant in Basel, die tatsächlich schon genehmigt ist. Sie ist national koordiniert unter der „Federation Suisse-Palestine“  (FSP) bzw. dem „Dachverband Schweiz-Palästina“.  Die Veranstalter hoffen auf mindestens 6.000 Teilnehmer.

Leider gibt es auch negative Entwicklungen, wie mir Hanspeter G. bedauernd mitteilt. Noch vor Jahren sei die Universität Basel sehr offen gewesen für pro-palästinensische Veranstaltungen bzw. für wissenschaftliche Vorträge zu Palästina. Heute seien ihre Tore fast hermetisch verschlossen. Inzwischen gibt es, so fährt er fort, selbst inner-universitär nichts mehr zu Palästina. Dafür seien „Jüdische Studien“ stark vertreten. Und man behaupte, jüdischen Studierende fühlten sich von pro-palästinensischen Aktivitäten bedroht. Argumente dagegen werden schlicht abgeblockt.

Aber linke jüdische Aktivisten kommen regelmäßig nach Basel und können, eben außerhalb der Universität, in Veranstaltungen, die von der Palästina-Solidarität organisiert werden, reden, wie z.B. Shir Hever oder Nurit Peled.

Zum 125. Jahrestag der Gründung des Zionismus in Basel schließlich gab es noch eine, wenn auch relativ kleine, aber doch sehr erfolgreiche Gegendemonstration vor dem Casino, die in der Zivilgesellschaft sehr positiv aufgenommen wurde. Das hilft dabei, die oft unerträglichen, billigen, ja regelrecht heimtückischen Attacken gegen die Palästina-Solidarität zu überstehen. Und einschüchtern lassen sie sich nicht in Basel.

Verglichen mit dem Horror in Gaza, in der Westbank und zuletzt im Libanon, so schließt Hanspeter G. unser Gespräch, seien diese Attacken etwas, das man überstehen könne, gegen das man angehe mit umso größerem Engagement für Palästina und für ein Ende des Völkermordes: von Gaza bis nach Beirut