Die heurige Palästinensische Filmwoche ist die bislang absolut erfolgreichste derartige Veranstaltung. Sämtliche Vorführungen waren ausverkauft, wir mussten leider einige Leute wegschicken. Wir planen daher, in den nächsten Wochen noch die eine oder andere Sondervorführung. Für die Matinee am kommenden Sonntag sind noch wenige Restkarten verfügbar, sofortige Reservierung ist ratsam!
Auf einen zahlreichen Besuch bei The Devil Drivers freut sich
Fritz Edlinger
Ich möchte bei dieser Gelegenheit auch auf den TV-Bericht vom Eröffnungsabend verweisen:
„Sinwar war ein brutaler Mörder und Terrorist, der Israel und seine Menschen vernichten wollte. Als Drahtzieher des Terrors am 7. Oktober brachte er tausenden Menschen den Tod und unermessliches Leid über eine ganze Region. Die Hamas muss jetzt sofort alle Geiseln freilassen und die Waffen niederlegen, das Leid der Menschen in Gaza muss endlich aufhören“, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 17.Oktober 2024. (https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2680608 )
Politische Führer weltweit überschlagen sich in ihrer Genugtuung über den Tod des „barbarischen Terroristen Yahya Sinwar, verantwortlich für die schlimmsten Gräueltaten“.
Wie üblich vergessen sie geflissentlich, dass es die israelische Armee ist, die den Gaza-Streifen zerstört und Zehntausende von Menschen getötet hat.
Wer war Sinwar?
Er ist am 29. Oktober 1962 im Flüchtlingslager Khan Yunis geboren. Nächste Woche wäre er also 62 Jahre alt geworden. Seine Eltern wurden 1948 aus ihrer Heimat Ashkelon (Asqalan auf Arabisch) vertrieben und fanden, wie weitere Zehntausende von Flüchtlingen, Zuflucht im Gaza-Streifen. Sinwar ging in Khan Yunis zur Schule und machte im Anschluss an das Abitur (tawjihi) einen Bachelor in Arabischer Sprache an der Islamischen Universität in der Stadt Gaza. An der Islamischen Universität trat er Anfang der achtziger Jahre in die Muslimbrüderschaft (MB) ein. Schon 1982 wurde er kurz (genau für vier Monate, so der offizielle Lebenslauf bei Hamas) verhaftet, allerdings ohne Anklage. 1985 war er einer der Gründer von Majd, der vormilitärischen Sicherheitsabteilung der MB. Als die israelische Armee 1988, nach der Gründung von Hamas im Dezember 1987, Waffen bei al-Majd fand, wurde er wieder kurz verhaftet, bis er schließlich 1989, nach einer erneuten Verhaftung, zu viermal lebenslänglich verurteilt, laut israelischen Angaben wegen des Mordes an Palästinensern, die von den Muslimbrüdern als Kollaborateure identifiziert worden waren. (Quelle: Encyclopedia Britannica, 17.10.2024) (https://www.britannica.com/biography/Yahya-Sunwar )
Jon Elmer von der Electronic Intifada liefert (Electronic Intifada live am 23.10.2024) andere Informationen. Danach wurde Sinwar 1988 bei Jenin verhaftet und verurteilt wegen seiner Organisierung des bewaffneten Kampfes gegen die Besatzung. Diese Informationen finden sich sowohl im offiziellen Lebenslauf von Sinwar bei Hamas https://hamasinfo.info/2024/08/07/3245/
Aus seiner Zeit in israelischer Haft stammt die erste wichtige Quelle, die uns erlaubt zu verstehen, wer Sinwar war und wie seine politischen Ziele aussahen. Es ist der autobiographische Roman „Dornen und Nelken“, den er in den Jahren seiner Haft verfasste und dessen Text stückweise aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde.
Tarif Khalidi, palästinensischer Emeritus Professor für Arabische und Islamische Studien an der American University of Beirut (er lehrte auch parallel an der Universität Cambridge, wo er 1996 zum Sir Thomas Adams’s Professor of Arabic and zum fellow des King’s College sowie schließlich zum Direktor des Center of Middle Eastern Studies dort ernannt worden war), schrieb, zusammen mit Mayssoun Sukarieh vom Forschungskomitee des Institute of Palestine Studies, eine ausführliche Analyse dieses Romans.
Zentral für Sinwar war der Krieg 1967. Damals grub sein Vater ein tiefes Loch hinter ihrem Haus im Flüchtlingslager, wo sich die gesamte Familie versteckte, um zu überleben.
Israelische Besatzung bedeutet für ihn ausschließlich Widerstand gegen Besatzung. Dieser Widerstand durchlief Perioden des Auf und Ab. Darüber debattieren die Akteure des Romans ausführlich.
Dabei werden drei politische Linien sowie die Debatten unter diesen im Detail vorgestellt
Fatah
Linke marxistische Richtung
Islamistische Richtung
Dass der Erzähler zur pro-islamistischen Richtung gehört, wird deutlich. Allerdings stellt er die anderen Richtungen absolut objektiv dar.
Von 1987 bis heute durchlief die Hamas eine langsame Entwicklung hin zum Selbstverständnis als Teil des globalen anti-kolonialistischen Kampfes. Alle antisemitischen Klischees, anfangs übernommen vom westlichen antisemitischen Diskurs, wurden fallengelassen.
Erstaunlich, so Khalidi, dass Sinwar in seinem Roman aus einer frühen Periode von Hamas keinerlei antisemitische Einstellungen zeigt. Seine Hauptkritik, sein tiefsitzender Zorn ist gegen palästinensische Kollaborateure mit der Besatzung gerichtet. Dagegen ist Sinwar durchgängig tolerant gegenüber den Palästinensern aus Gaza, die in Israel arbeiten und von dort neue Ideen mitbringen. Das gilt auch für die Besuche von Israelis, die zum Beispiel zu Hochzeiten ihrer Angestellten nach Gaza kommen. Dabei ist absolut nichts von Antisemitismus zu lesen oder zu spüren.
Entscheidend für Sinwar ist der Widerstand gegen die Besatzung. Dabei geht es ihm vor allem um die Schaffung einer Infrastruktur des Widerstandes. Sinwar, so Khalidi, legt einen „geradezu obsessiven und gleichzeitig kreativen Schwerpunkt auf das Projekt des Baus einer Infrastruktur des Widerstandes, sowohl physisch als auch institutionell“.
Zum Bau dieser Infrastruktur gehören
o der Aufbau von Universitäten, also bei Sinwar z.B. die Islamische Universität in Gaza,
o der Bau von neuen Schulen überall im Gaza-Streifen
o die Schaffung eines Netz des Widerstandes zwischen Gaza und der Westbank
o die Gewinnung von Wissenschaftlern für die zentrale Aufgabe, im Lande selbst Waffen für den Widerstand herzustellen.
Eben darin, so Khalidi, liege sein „Erfolg als Anführer des Guerilla-Kampfes aus Gaza“.
Die zweite wichtige Quelle für alle, die nicht an Hetze, sondern an Informationen über Sinwar interessiert sind, ist das wohl letzte gefilmte Interview mit Sinwar in englischer Sprache, das Hind Hassan, eine Reporterin von Vice-News, im Mai 2021 in Gaza führte.
Sinwar erklärte ihr, dass der Angriff der Hamas in Richtung Jerusalem eine klare Botschaft an Israel gewesen sei. Schon Stunden später sei die Hamas bereit gewesen zu einem Waffenstillstand. Alle Vermittler hätten diese Information erhalten: Ägypten, Qatar und die UN. Die Botschaft sei klar gewesen: „Lasst die Aqsa Moschee in Ruhe, hört auf mit Gewalt und Häuserenteignung und Zerstörung in Jerusalem und speziell auch in Scheich Jarrah.
Hört auf, internationales Recht zu verletzen durch Eure Siedlungen, durch den Diebstahl von Land, durch die Blockade gegen Gaza, durch die Politik von Apartheid und rassistischer Diskrimination gegen die Palästinenser…“
Auf die Frage, ob der Krieg nun zu Ende sei, antwortet Sinwar:
„Der Krieg zwischen uns und der Besatzungsmacht… ist offen, ohne klares Ende…
Wir wollen keinen Krieg und keine Kämpfe, denn dies kostet Leben und unser Volk hat Frieden verdient. Lange Zeit haben wir friedlichen Widerstand geübt. Wir haben auf die internationale Gemeinschaft gesetzt … und gehofft, dass sie die Verbrechen und Massaker der Besatzung an unserem Volk stoppen würden. Leider hat die Welt tatenlos zugesehen, wie die Kriegsmaschinerie der Besatzung unsere jungen Leute getötet hat.“
Auf die Frage von Hassan, ob nicht auch die Hamas Kriegsverbrechen begangen habe mit dem Schießen von Raketen in israelisches Gebiet antwortet Sinwar:
„Israel hat die modernsten Waffen und bombardiert und tötet unsere Kinder und Frauen mit Absicht…. Sie können das nicht mit dem Widerstand derer vergleichen, die sich verteidigen mit vergleichsweise primitive Waffen. Wenn wir präzise Waffen hätten, würden wir nur militärische Ziele angreifen…
Was sollen wir also in Ihrer Meinung tun? Die weiße Flagge hissen?
Das wird nicht passieren. Erwartet die Welt von uns, dass wir Opfer sind, die sich gut benehmen, während sie getötet werden? Dass wir abgeschlachtet werden, ohne jeglichen Muckser. Das ist unmöglich. Wir haben entschieden, unser Volk mit den Waffen, die wir haben, zu verteidigen.“
Die Reaktion auf den Tod Sinwars in der palästinensischen und arabischen Gesellschaft unterscheidet sich diametral von der anfangs zitierten westlichen Reaktion. Für die Mehrzahl der Palästinenser, Araber und generell der Menschen im globalen Süden wurde Sinwar durch seinen Widerstand, durch seine aktive Teilnahme am Kampf der Palästinenser gegen die israelische Armee in Gaza bei der Durchführung ihres Völkermordes und ihrer brutalen Zerstörungskampagne zu einem historischen Helden, zur Ikone des Widerstandes. Vergleichbar war er nur noch mit Scheich Izzedin Qassam, dem ersten Kämpfer gegen den britischen Kolonialismus und den jüdischen Siedlerkolonialismus, der Ende 1935 bei Jenin erschossen wurde, und letztlich mit Che Guevara, der – vielen unbekannt – Gaza in den fünfziger Jahren besucht hatte. Wie al-Jazeera auf dem arabischen Kanal nicht müde wurde zu betonen und durch Video-Aufnahmen zu zeigen, starb Sinwar nicht, wie die israelische Propaganda immer verbreitete, versteckt hinter den Geiseln in den Tunneln unter Gaza. Er starb im direkten Kampf gegen die Armee. Er beschoss sie mit Granaten und gab bis zu seinem Tod den Widerstand nicht auf. Die Videos, die von israelischen Soldaten über Social Media unzensiert ins Netz gelangten, zeigen ihn, wie er mit dem linken Arm – sein rechter Arm war schon zerfetzt – einen Stock gegen die Drohne warf, die versuchte Bilder aufzunehmen im Gebäude, in das er nach den ersten Verletzungen geflüchtet war, um von dort weiter zu kämpfen mit den verbliebenen Granaten.
Danach kam ein neuer Angriff der Armee gegen das gesamte Gebäude, das über ihm zusammenstürzte und ihn tötete. Auf Electronic Intifada können diese Szenen im Bericht von Jon Elmer vom 23.Oktober 2024 nachverfolgt werden. Inzwischen kursieren Bilder überall im Netz, in denen das Schleudern von Stöcken gegen Drohnen der israelischen Armee als Zeichen des ungebrochenen Widerstandes gegen den Völkermord in Gaza kodifiziert wird.
Schließlich wurde ein neues arabisches Sprichwort kreiert: Sinwars Stock.
Sinwars Stock repräsentiert das Durchhalten in den schlimmsten Situationen, den Willen, nicht aufzugeben, auch gegenüber unüberwindlichen Herausforderungen. Es bedeutet, dass man alles versucht hat und dass man am Schluss nur noch diesen Stock hat um Widerstand zu leisten.
„Ich habe Sinwars Stock geworfen“ heißt, dass man alles gegeben hat, um sein Ziel zu erreichen.
Israels völkermörderische Armee hat aus Sinwar eine neue Ikone für den palästinensischen Widerstand, für den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und ein Ende der Unterdrückung geschaffen.
Ein Jahr Genozid in Gaza. Die israelischen menschenverachtenden Angriffe gehen ohne Unterbrechung weiter. Zuletzt die erschütternde Meldung: Israel will Ärzte und Pfleger im Kamal Adwan Krankenhaus im Norden des Gazastreifens zwingen, das Krankenhaus zu verlassen und ihre Arbeit dort aufzugeben. Aber Direktor Dr.Hossam Abu Safia weigert sich:
„Solange wir Patienten haben, werde ich nicht gehen….Ich bin hier seit Beginn des Völkermordes und ich bin fest entschlossen, weiter meinem Volk zu helfen.“
Israel plant, den gesamten Norden des Gaza-Streifens ethnisch zu säubern, sprich alle Menschen dort – also mindestens 400.000 – zu vertreiben.
Seit einem Jahr läuft die Mord-und Zerstörungsmaschine „israelische Armee“ in Gaza: Menschen und vor allem Kinder, Ärzte, Journalisten und nicht zuletzt Intellektuelle und Professoren sowie deren Studenten. Im Gazastreifen steht keine Universität mehr. Studentinnen und Studenten können nicht mehr studieren.
www.birzeit.edu
Hier setzt die Universität Birzeit ein mit ihrem Aufruf „Rebuilding Hope“, neue Hoffnung für Universitäten und Studenten in Gaza. Der Aufruf zeigt deutlich, wie in Birzeit das vergangene Jahr verstanden wird: Der Versuch, die einheimischen Palästinenser regelrecht auszulöschen durch den zionistischen Siedlerkolonialismus. In diesem Kontext, so der Aufruf weiter, werden „Institutionen mit massiver Gewalt attackiert, jede Infrastruktur wird zerbombt; die Kultur wird zerstört, um die schlichte Existenz einer kollektiven nationalen Identität zu verhindern, … einschließlich jeder nationaler politischer Zukunft.“
Hier sieht sich die Universität Birzeit gefordert, „moralisch wie national“. Sie muss und will eine aktive Rolle in Gaza ergreifen, aufgebaut auf der Vision zweier Konzepte: „institutional mutual reinforcement“, also gegenseitige institutionelle Stärkung, „indem sie Universitäten in Gaza, Akademiker und Studenten dort unterstützt, damit diese wieder ihre zentrale Rolle in der Gesellschaft aufnehmen können“. Das zweite Konzept ist „der Versuch, neue Hoffnung in Gaza zu ermöglichen, trotz der genozidalen Zerstörung“.
Birzeit sieht sich verpflichtet, voranzugehen in der Konfrontation des Siedlerkolonialismus und seiner Logik der Eliminierung aller Palästinenser. Das bedeutet nicht zuletzt die Betonung der Standhaftigkeit gegenüber diesen Herausforderungen. Deshalb unterstützt Birzeit alle Universitäten in Gaza mit „institutioneller Synergie, Universitätsbildung sowie der Schaffung transformativen Wissens, das lokal verankert ist und in direkter Verbindung zu den materiellen und sozialen Voraussetzungen für den Wiederaufbau Gazas steht.“
Birzeit sieht sich als „das Zentrum für palästinensische, arabische und internationale Initiativen zur Unterstützung der universitären Bildung in Gaza“.
An erster Stelle steht die Herstellung von Partnerschaften mit Universitäten in Gaza. Birzeit will eine regelrechte globale Koalition von Universitäten schaffen, die Akademiker in Gaza unterstützen, damit sie dort bleiben und ihre Universitäten wiederaufbauen können.
Birzeit: die älteste Universität in Palästina
Zweitens muss eine enge Zusammenarbeit entstehen zwischen akademischen Lehrern in Birzeit und weltweit und ihren Kollegen in Gaza. Das heißt auch, dass Studenten in Gaza ein regelrechtes Fernstudium aufnehmen können auf hohem akademischen Niveau. Studenten brauchen dazu sowohl psychologische wie soziale Unterstützung. Ihre Abschlussarbeiten, ihre Master-und Ph.D. Thesen müssen betreut werden. Birzeit ist bereit, Studenten auch physisch in Birzeit aufzunehmen in dem Moment, in dem diese wieder aus Gaza ausreisen können.
Transformative Forschung ist das dritte Ziel, das Birzeit mit seiner Intervention anstrebt. Nur damit kann Gaza „materiell, sozial, kulturell und ökologisch wiederaufgebaut werden“. Dieser Aufbau, und das ist entscheidend, kann nur im lokalen kulturellen Kontext und auf der Basis palästinensischer politischer Souveränität erfolgen. Wiederaufbau durch internationale, letztlich koloniale Interventionen auf der Basis der Logik von Macht ist nicht nur kontraproduktiv; jeder Versuch in diese Richtung muss entschieden zurückgewiesen werden.
Am Schluss steht ein Aufruf an Studenten aus Gaza: macht hier einen Klick und füllt Eure Bewerbung zum online-Studium in Birzeit aus.
„Unser Wille ist unerschütterlich… Wir alle sind Gaza“. Damit endet Birzeits „Rebuilding Hope“.
Die Al Quds Universität in Gaza…
In Gaza gibt es traditionell zwei große Universitäten: die Islamische Universität und die Azhar Universität. Die Islamische Universität war die erste Universität in Gaza, als sie 1978 gegründet wurde. Sie wurde immer wieder von der israelischen Armee bombardiert, sowohl im Krieg 2008/9 als auch im Krieg 2014. Die totale Zerstörung erfolgte im Krieg seit dem Oktober 2023. Ihr Präsident, Professor Sufyan Tayeh, wurde zusammen mit seiner gesamten Familie im Jabaliya Flüchtlingslager ermordet … einer von zahllosen Akademikern und Intellektuellen.
Die Al-Azhar Universität wurde 1991 etabliert. Beide Universitäten liegen einander direkt gegenüber in der Stadt Gaza. Nach Abzug der israelischen Siedlungen und der israelischen Armee aus dem Gaza-Streifen 2005 wurden Ableger beider Universitäten in Khan Yunis in den ehemaligen Siedlungsgebieten errichtet, vor allem für die Studenten aus dem Süden bis hin nach Rafah.
Die drittgrößte Universität ist die al-Aqsa Universität, an der speziell zukünftige Lehrer studieren. Sie wurde genau wie al-Azhar 1991 gegründet (nach einigen Angaben existiert sie wohl schon seit 1955).
Im Mai traten diese drei Universitäten mit einem emergency Komitee an die internationale Öffentlichkeit. Ihr Ziel war/ist es, internationale Unterstützung zu bekommen, damit alle Universitäten in Gaza zum frühest möglichen Zeitpunkt wieder lehren und forschen können.
Daneben gibt es mindestens sieben weitere größere und kleinere Universitäten und Colleges. Laut offiziellen Angaben studieren etwa 100.000 junge Menschen aus Gaza an diesen Universitäten und Colleges.
Alle wurden seit dem Oktober 2023 von der israelischen Armee in Grund und Boden gebombt bzw. mit Sprengstoff in die Luft gejagt und zerstört.
Im Bericht „Scholasticide“ der Menschenrechtsorganisation al-Mezan in Gaza vom zweiten September 2024 lesen wir von mehr als 10.000 getöteten Schülern und Studenten und von mehr als 500 getöteten Lehrern und Professoren. https://www.mezan.org/en/post/46514
Auch die Universität Bethlehem, genau wie Birzeit eine christliche Gründung, an der ebenso wie in Birzeit die Mehrzahl der Studenten Muslime sind, ruft auf zur solidarischen Unterstützung der Universitäten in Gaza. Der Vize-Präsident der Universität, der einzigen katholischen Universität im besetzten Palästina, Brother Hernán Santos González, PhD, formuliert klar und unzweideutig:
„Der 7. Oktober zeigte der Welt unübersehbar die Gewalt, das Unrecht und die Tötungen, die seit über siebzig Jahren illegaler Besetzung der palästinensischen Gebiete das Heilige Land heimsuchen.“ … „Wie Papst Franziskus… sagte, Gewalt, Unrecht und Tötungen begannen nicht am 7. Oktober…” “Der Nahe Osten braucht keinen Krieg, sondern Frieden, Frieden auf der Basis von Gerechtigkeit, Dialog und dem Mut zu Brüderlichkeit”, so die Worte des Papstes.
„… die grauenhaften Angriffe auf Gaza führten zu 50.000 Toten, darunter mehr als 11.000 Kinder. Alle zwölf Minuten wird ein Mensch in Gaza getötet. Es war ein Jahr des Todes und der Zerstörung, in der Westbank, in Gaza, in Jerusalem und zuletzt im Libanon. Unser Land steht unter Militärbesatzung und unsere Gemeinden müssen die Auswirkungen von Krieg und illegaler Besatzung ertragen. Das Leid hat unvorstellbare Ausmaße angenommen.“
Der Vize-Präsident fordert die Leser seines Briefes zu einem Jahr Krieg und Völkermord in Gaza auf, sich dem Aufruf des lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pizzabella, sowie des Papstes anzuschließen im einem Tag des Gebetes und des Fastens für Frieden in der Welt, ganz besonders aber im Nahen Osten.“
Abschließend betont Bruder Gonzalez „die Rolle der Universität in ihrem Dienst an der Menschheit im Zeichen von Menschlichkeit. Die Universität ist dem Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden verpflichtet. Erziehung und universitäre Bildung sind unser Weg zum Aufbau einer Gesellschaft, in der alle in Würde, Sicherheit und Frieden leben können, unabhängig von Nationalität, Religion oder politischer Einstellung.“
„Die Universität Bethlehem erzieht zu kritischem Denken, damit sie …Bürger heranbildet, die der Wahrheit, der Gerechtigkeit und dem Allgemeinwohl verpflichtet sind.
aus Ramallah schließlich hat ein neues Programm gestartet zur Unterstützung von Studenten und Universitätserziehung in Gaza.
Ziel ist die Bereitstellung von 16 Millionen US Dollar, damit 30.000 Stipendien für zwei Semester vergeben werde können. 15.000 Studenten in Gaza sollen über ein Fernstudium ihre Universitätsbildung weiterführen können. Palästinensische Universitäten in Gaza sollen erhalten bleiben und weiterentwickelt werden.
„Sie sind entschlossen weiterzumachen… Ihr könnt sie dabei unterstützen.“
Zum Fest der Internationalen Solidarität treffen sich Aktivisten aus der ganzen Stadt. Viele sind von weither angereist, um mit dabei zu sein. In diesem Jahr gilt die Solidarität den Palästinensern, allen voran den Palästinensern in Gaza.
„Der jahrzehntelange Kampf des palästinensischen Volkes gegen Besatzung und für Selbstbestimmung ist ein gemeinsamer Kampf aller Werktätigen und progressiven Kräfte weltweit.
Angesichts des anhaltenden Völkermords in diesem Land durch die zionistische Regierung in Israel müssen wir an der Seite Palästinas stehen und die Würde der Menschheit verteidigen. Denn dieser Kampf ist ein gerechter Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus, gegen Vertreibung und Ausrottung, für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes…“
Deutsche mit türkischer und kurdischer Herkunft, Menschen, die für die Freiheit Kubas von der US-amerikanischen Unterdrückung kämpfen, Junge und nicht so Junge, die Solidarität mit Palästina üben und überall und immer wieder fordern, alle stehen an diesem Samstag zusammen im Clara Zetkin Waldheim etwas außerhalb von Stuttgart.
Atiya R. aus Gaza ist mit dabei. Er kam Anfang der Achtziger Jahre zum Studium nach Deutschland und machte seinen Abschluss als Bauingenieur in Stuttgart. Dort war 1982 als Reaktion auf das Massaker von Sabra und Shatila das Palästinakomitee gegründet worden.
Atiya schloss sich dem Komitee an, wo er auch auf seine spätere Frau Verena traf. Damals demonstrierten Menschen aus allen Parteien gegen dieses Massaker und für die Palästinenser. Und es waren große, eindrucksvolle Demonstrationen, an denen Tausende mitmarschierten: Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Deutsche, Türken, Palästinenser.
Bald jedoch, so bedauernd Atiya in unserem Gespräch am Rande des Festes, begannen Richtungskämpfe, die bis heute nicht gelöst werden konnten. Entsprechend kleiner sind auch die Demonstrationen geworden: manchmal nur 100 oder 200 Teilnehmer, an den besten Tagen sind es 500. So viele erwartet er am 7.Oktober, dem Tag der Erinnerung an Ein Jahr Völkermord in Gaza.
Mit dabei sein werden das Palästinakomitee, die Gruppe „Palästina spricht“, viele junge und ältere nicht organisierte Palästinenser, Deutsche, Türken, Syrer, Kurden und Menschen aus Lateinamerika und Afrika.
Auch Annette Groth wird am 7. Oktober demonstrieren. Vorher fährt sie aber am 5. Oktober zum in Wien geplanten Palästina-Kongress, bei dem der palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta, der griechische Politiker Yanis Varoufakis, die israelische Journalistin Amira Hass und der israelische Historiker Ilan Pappe reden sollen.
Annette Groth bringt ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit. Sie wurde 2010 zunächst von Pax Christi auf das Solidaritätsschiff nach Gaza hingewiesen. Sie fand das eine wichtige Aktion und fuhr schließlich im Mai 2010 von Stuttgart aus mit der Mavi Marmara, die in Zypern ihre Fahrt begann, nach Gaza. Vielmehr versuchte sie, zusammen mit internationalen Aktivisten, darunter auch fünf Deutsche: Norman Paech (ehemaliger Abgeordneter der Linken), Inge Höger (MdB Die Linke), Mathias Jochheim (IPPNW), Nader al-Sakka (der einzige Deutsch-Palästinenser in der Gruppe) und eben Annette Groth (MdB Die Linke), auf diesem Schiff Hilfe nach Gaza zu bringen und die israelische Blockade Gazas zu durchbrechen. Der Versuch endete sehr blutig: die israelische Armee kaperte das Schiff und tötete dabei neun türkische Aktivisten. All dies ist für sie, als sei es erst gestern passiert:
„Es war wie ein Krieg. Sie hatten Gewehre, schossen mit Tränengas – auf unserer Seite wurden nur einige Holzstöcke zur Verteidigung benutzt… Wenn die israelische Armee diesen Angriff als Selbstverteidigung stilisiert, dann ist das schlicht lächerlich.“
Zum Abschluss des Festes wird der Film „Not Just Your Picture“ (deutsch) gezeigt.
Der Film erzählt die Geschichte der Geschwister Layla und Ramsis Kilani , die in Siegen aufgewachsen sind und in Deutschland leben. Nachdem die Ehe mit der deutschen Mutter auseinandergegangen war, ging ihr palästinensischer Vater Ibrahim zurück nach Gaza.
Im israelischen Krieg gegen Gaza im Jahr 2014 wurden der Vater Ibrahim, dessen fünf in Gaza geborene Kinder und dessen zweite Frau bei der Bombardierung eines Hochhauses getötet. Im Film geht es um den Einsatz der Geschwister Layla und Ramsis für Gerechtigkeit für die Familie Kilani. https://www.filmpodium.ch/film/171007/not-just-your-picture
Für Annette Groth geht es, wie schon oben erwähnt, am 5. Oktober weiter: Palästina-Kongress in Wien. Werden die Wiener da erfolgreich sein, wo Berlin gescheitert ist bzw. wo die Berliner Unterdrückung so massiv war, dass der Kongress schon in den Anfangsminuten gestoppt wurde?
Die Wiener haben daraus gelernt. Der Veranstaltungsort wurde lange regelrecht geheim gehalten. Aber als am 4. Oktober die Informationen rausgehen mussten, schaltete sich die Stadt Wien ein: Kein Palästina-Kongress. Sie hatte jedoch nicht mit den Wiener Solidaritätsaktivisten gerechnet. Die hatten Plan B in der Tasche: der Kongress fand statt mit allen angekündigten Teilnehmerinnen und Teilnehmern: von Amira Hass bis Azzam Tamimi, von Hebh Jamal bis Haneen Zoabi und vielen, vielen mehr. Nur Dr. Ghassan Abu Sitta musste sich entschuldigen. Seine Arbeit in Beirut, die Versorgung der zahllosen Verletzten durch die brutalen israelischen Bombardierungen ist wichtiger.
Aber zurück nach Stuttgart.
Nicht nur die beschämende Realität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Pro-Völkermord Regierung in Berlin, auch die eigene Vergangenheit verbindet Stuttgart in schrecklicher Weise mit Gaza: Gaza, dem größten Kinderfriedhof der Welt seit Beginn des Völkermordes vor einem Jahr.
In Stuttgart trauern die wenigen, die davon wissen, um die Kinder der sowjetischen Zwangsarbeiter, die in und um Stuttgart „im Lager geboren und gestorben“ sind. Darüber erfahren wir im erschütternden Buch von Karl-Horst Marquart, erschienen 2024 und angeregt von den Stolperstein Initiativen, den Bürgerprojekten gegen Gewalt und Vergessen und den Anstiftern. (Erschienen im Verlag Peter Grohmann Nachfolger. Stuttgart).
Ein Stolperstein wurde auch für Christian Elsässer verlegt. Er ist einer der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter, die den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und ihren Kindern geholfen haben. Was ist die Geschichte von Christian Elsässer? 1943, kurz nach dem Sturz von Mussolini, wurden italienische „Kriegsgefangene nach Deutschland transportiert und dort in der Kriegsindustrie eingesetzt. Einige Hundert waren auch bei der Firma Bosch beschäftigt.
Anfang 1944, die Luftangriffe auf Stuttgart hatten schon einen ersten Höhepunkt erreicht, drängten sich wie üblich zahlreiche deutsche Arbeiter und italienische Kriegsgefangene an den Schalter, an dem der Kollege Elsässer das Essen und Trinken ausschenkte. Ein deutscher Arbeiter stürmte nach vorn und beschwerte sich, dass die italienischen Kriegsgefangenen genauso schnell abgefertigt würden wie die „Deutschen“. Das sei doch unerhört und der Kollege Elsässer solle doch dafür sorgen, dass erst die Deutschen bedient werden und dann erst die Verräter.“
Elsässer reagierte mit schwäbischer Direktheit:
„Mir sind kriegsgefangene Italiener am Arsch lieber als ihr Nazis im Gesicht.“
Innerhalb weniger Tage wurde Elsässer verhaftet. Im Sommer 1944 wurde er zum Tod durch Schafott verurteilt.
(Tilman Fichter, Eugen Eberle. 1974. Kampf um Bosch. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. S.158).
Die Palästina-Solidarität in Stuttgart geht weiter. Am Montag, 7. Oktober, wird demonstriert „gegen den inzwischen 12 Monate andauernden israelischen Genozid in Gaza und gegen den israelischen Krieg im Libanon. Wir demonstrieren und protestieren dabei auch gegen die inzwischen 76 Jahre andauernde Nakba (ethnische Säuberung und Vertreibung der Palästinenser:innen), Siedlerkolonialismus und Apartheid, in deren Zusammenhang die Ereignisse des 7. Oktobers gesehen werden müssen und die einen neuen erschreckenden Höhepunkt im genozidalen Krieg gegen Gaza erreicht haben, wobei die israelische Besatzungsmacht inzwischen auch mit extremer Brutalität in der Westbank vorgeht.
Den Libanonkrieg führt der Staat Israel ebenfalls mit massiven tödlichen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung. Dies ist auch Ausdruck der ultrarechten und rassistischen Kräfte, welche die Politik des Staates Israel bestimmen. Die Unterstützung vor allem durch die USA und die Bundesrepublik verstärkt diese rechtsextremen Kräfte und gefährdet die gesamte Region“.
Leider mischen sich einige Wehrmutstropfen in die eindrucksvolle Solidarität, die gerade heute mehr denn je gefordert ist. Immer wieder können sich verschiedene Organisationen nicht zusammenraufen bzw. boykottieren sich regelrecht gegenseitig. In Stuttgart gab es deshalb gleich zwei Demonstrationen: eine am Sonntag, 6. Oktober, angeführt von Palästina spricht: sehr eindrucksvoll mit großartigen Parolen und Forderungen.
Die nächste am Montag, angeführt vom Palästinakomitee, mit der bewegenden Rede von Fanny-Michaela Reisin von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Sie war extra aus Berlin angereist.
Kooperation zwischen allen Richtungen aus der Solidaritätsbewegung ist das Gebot der Stunde. Der Druck von oben wird, gerade auch in Deutschland, aber überall in Europa und in den USA, immer massiver, ja nimmt gerade perverse Formen an. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen entblödet sich nicht, eine Demonstration zu verbieten, an der Greta Thunberg teilnehmen soll. Begründung: Sie sei „gewaltbereit“!!!
Im Deutschland des Jahres 2024 sind Palästina-Solidarität und Greta Thunbergoffensichtlich gefährlicher für die Demokratie (bzw. das, was in Deutschland davon noch übriggeblieben ist!) als die AfD und ihre rassistisch-faschistoiden Schergen.
Das Thema zieht viele Interessierte in Basel an. In den üblichen Veranstaltungsorten redet man sich heraus: wir sind für diesen Tag schon belegt. Aber am Rande von Basel, leicht erreichbar aus der Innenstadt, hat sich ein aufgeschlossener Pfarrer bereit erklärt, den Saal seiner Gemeinde bereitzustellen. Der Saal wird voll.
Und er wird voll trotz der Rolle, die Basel für die Entstehung des Zionismus gespielt hat.
1897, also 127 Jahre vor meinem Vortrag zum Völkermord, findet im Casino Basel der Erste Zionistische Kongress statt, auf dem der Zionismus als Bewegung gegründet wird. Theodor Herzl, der ein Jahr zuvor seine programmatische Schrift „Der Judenstaat“ publiziert hatte, übernachtete im (bis heute) besten Hotel der Stadt, dem Hotel „Drei Könige“. Auf dem Balkon des Hotels wurde das historische Bild Herzls vor dem Rhein und der Rheinbrücke aufgenommen, mit seinem visionären Blick in die Zukunft
Aber die Zeiten ändern sich. Herzl hat die Nase voll von Israel, wie wir von B. Michael in Haaretz erfahren. B. Michael besuchte nämlich Herzls Grab auf dem Herzls-Berg in Jerusalem. Und dort fand er die Überraschung seines Lebens:
Herzl stand, voll gekleidet in seinem bekannten Gehrock, der Zylinder noch abgelegt auf dem Mausoleum, neben dem Grab.
Die erste schockierte Frage von B. Michael: was machen Sie denn, Herr Herzl. Herzl klärte ihn auf: „ich bin ein deutscher Jude und hinterlasse kein Chaos“, dabei faltete er sorgfältig sein Leichentuch zusammen. Und dann zeigte er auf seinen Gehrock: „Sehen Sie: Das ist beste Wiener Qualität. Ich hatte darauf bestanden, dass die Kleidung mit mir ins Grab gelegt wird. Und jetzt: wie neu!“
Als nächstes fragte B. Michael, immer noch unter Schockeinwirkung: Wie sind sie denn aus dem Grab gekommen?
Herzl antwortete: „Natürlich grub ich einen Tunnel, wie das heute jeder macht!“
Die Ermordung Rabins im November 1995 habe ihn dazu gezwungen. Diese Ermordung habe alle seine Visionen für einen jüdischen Staat zerstört. Schließlich, so meint er, habe er nicht nur die programmatische Schrift „Der Judenstaat“ geschrieben, sondern vor allem das Buch „Altneuland“, in dem seine Visionen zu lesen sind.
Und seine Vision für den Judenstaat sei „ein aufgeklärter Staat gewesen, Gleichheit unabhängig von Nationalität, Religion oder gender. Ein Staat, in dem die Generäle in den Kasernen und die Priester in den Synagogen bleiben müssen. Ein Staat, der sich der Gefahren, die von Nationalismus, extremistischer Religion und Rassismus ausgehen, bewusst ist.“
„Und was habt Ihr hier daraus gemacht“, so Herzls rhetorische Frage, und er ist erschüttert, als er sie stellt:
„Genau das Gegenteil. Einen Mülleimer von Rassismus, Nationalismus, Militarismus, Hass, religiöser Eifer, Diskrimination von Frauen, Grausamkeit, Tyrannei, Korruption. Rabbiner in den Kasernen und Generäle in den Synagogen.“
Und er schließt entrüstet:
„Und ich soll dafür verantwortlich sein! Nein!“
Jetzt wolle er weg von hier, um im einfachen Mausoleum seiner Familie in Wien auf dem Döblinger Friedhof endlich seine Ruhe zu finden.
Damit wendet er sich an B.Michael: „Wie komme ich von hier zum Ben-Gurion Flughafen?“
„Es gibt keine Flüge“, so die Antwort von B. Michael.
„Scheiße,“ murmelte Herzl, „jetzt hat man mich schon wieder verarscht“, und damit legt er seinen Zylinder wieder ab.
In Basel gibt es seit 1997 eine sehr aktive Palästina-Bewegung. Sie entstand als Gegenveranstaltung zu 100 Jahren Zionismus-Kongress. In der Bewegung sind neben Schweizer Bürgern auch arabische und jüdische Oppositionelle (mit oder ohne Schweizer Pass) organisiert.
2004 wurde das Palästina-Komitee gegründet, heute bekannt unter dem Namen „Palästina-Solidarität Basel“. Sie geben eine eigene Zeitschrift heraus: „Palästina Info“. Außerdem haben sie ihre eigene Webseite, auf der ihre regelmäßigen Veranstaltungen angekündigt werden.
Wichtig für sie ist die uneingeschränkte Unterstützung der BDS Bewegung (boycott, divestment, sanctions): Boykott, Abzug aller Investitionen aus Israel und den Besetzten Gebieten, Sanktionen.
Seit 2023 versuchen sie, sich landesweit zu vernetzen in einem breiten Bündnis von christlichen Aktivisten bis hin zu radikalen Linken. Sie wollen breit und heterogen weitermachen und nicht zuletzt junge Leute und studentische Aktivisten einschließen.
Schon am 24. Januar organisierten sie eine Großdemonstration gegen den Genozid in Gaza. 6.000 Menschen nahmen teil. Während des Ramadan fand ein „Eid für Frieden“ (Fest für Frieden) statt. Es gab ein gemeinsames Essen (Iftar) und dabei wurden 20 000 $ gesammelt für die UNRWA. Das war eine klare Gegenaktion gegen die offizielle Schweizer Politik, die UNRWA nicht mehr finanziell unterstützt, obwohl der UNRWA Generalsekretär Schweizer ist, Philippe Lazzarini.
Für den 5. Oktober ist eine landesweite Demonstration geplant in Basel, die tatsächlich schon genehmigt ist. Sie ist national koordiniert unter der „Federation Suisse-Palestine“ (FSP) bzw. dem „Dachverband Schweiz-Palästina“. Die Veranstalter hoffen auf mindestens 6.000 Teilnehmer.
Leider gibt es auch negative Entwicklungen, wie mir Hanspeter G. bedauernd mitteilt. Noch vor Jahren sei die Universität Basel sehr offen gewesen für pro-palästinensische Veranstaltungen bzw. für wissenschaftliche Vorträge zu Palästina. Heute seien ihre Tore fast hermetisch verschlossen. Inzwischen gibt es, so fährt er fort, selbst inner-universitär nichts mehr zu Palästina. Dafür seien „Jüdische Studien“ stark vertreten. Und man behaupte, jüdischen Studierende fühlten sich von pro-palästinensischen Aktivitäten bedroht. Argumente dagegen werden schlicht abgeblockt.
Aber linke jüdische Aktivisten kommen regelmäßig nach Basel und können, eben außerhalb der Universität, in Veranstaltungen, die von der Palästina-Solidarität organisiert werden, reden, wie z.B. Shir Hever oder Nurit Peled.
Zum 125. Jahrestag der Gründung des Zionismus in Basel schließlich gab es noch eine, wenn auch relativ kleine, aber doch sehr erfolgreiche Gegendemonstration vor dem Casino, die in der Zivilgesellschaft sehr positiv aufgenommen wurde. Das hilft dabei, die oft unerträglichen, billigen, ja regelrecht heimtückischen Attacken gegen die Palästina-Solidarität zu überstehen. Und einschüchtern lassen sie sich nicht in Basel.
Verglichen mit dem Horror in Gaza, in der Westbank und zuletzt im Libanon, so schließt Hanspeter G. unser Gespräch, seien diese Attacken etwas, das man überstehen könne, gegen das man angehe mit umso größerem Engagement für Palästina und für ein Ende des Völkermordes: von Gaza bis nach Beirut
Die Riverside-Kirche in New York: ein historischer Ort. Hier hat Martin Luther King jun. am 4. April 1967 seine Predigt gegen den Vietnam Krieg gehalten: „Beyond Vietnam: A time to break silence.“ (Jenseits von Vietnam: Wir müssen das Schweigen brechen).
57 Jahre später fordert ein palästinensischer Pfarrer dasselbe und klagt an:
Es ist derzeit nicht einfach, aus Jerusalem nach Bethlehem und nach Beit Sahour zu fahren, um Pfarrer Munther Isaac zu treffen. Immer wieder steht man vor Beton-Blöcken oder hermetisch geschlossenen Schranken, die einem am Weiterfahren hintern. Aber nach mehreren Versuchen sind wir in Bethlehem angekommen, wo Pfarrer Munther an der evangelischen Weihnachtskirche mitten in Bethlehem und zusätzlich an der evangelisch-lutherischen Kirche in Beit Sahour zuständig ist. An diesem Samstag treffen wir ihn in Beit Sahour.
Munther Isaac wurde weltberühmt mit seiner Weihnachtspredigt 2023, in der er die Welt, vor allem die christliche Welt, anklagt wegen ihres Schweigens zu Gaza. Die Predigt endet mit dem Satz, den er seinen Zuhörer und Zuschauern regelrecht einhämmert durch immer neue Wiederholungen:
„Diese Botschaft ist unsere Botschaft an die Welt von heute, und sie lautet einfach so:
Dieser Völkermord muss jetzt aufhören.“
Er wird sehr deutlich und hält mit seiner Kritik nicht zurück. Der Westen inklusive der westlichen Kirchen, so Pfarrer Munther, unterstützt Israels Völkermord auf allen Ebenen: militärisch durch immer neue Waffenlieferungen, finanziell mit ununterbrochenen Zahlungen und schließlich ideologisch. Grund sind – und wir sprechen ausführlich darüber – der westliche Kolonialismus in neuer Form, der Rassismus gegenüber allen Nicht-Weißen, also „white supremacy“, und die unverbrüchliche Unterstützung einer jeden israelischen Regierung und ihrer jeweiligen „Politik“ gegenüber den Palästinensern. Und diese „Politik“ besteht aus Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung und konstituiert ein Apartheid-System.
Eben dagegen kämpft der Pfarrer, der sich selbst als „arabischer palästinensischer Christ“ definiert: in seinen Predigten, in Vorträgen per Zoom und auf Reisen, in den vielen Büchern, die er schon geschrieben hat. Aktiv ist er nicht nur individuell-persönlich, sondern vor allem in zwei „Organisationen“:
Da ist an erster Stelle „Kairos Palästina“ zu nennen, das 2009 gegründet wurde (siehe dazu Brief aus Jerusalem zu Abuna Atallah Hanna): »A Moment of Truth« (Ein Moment der Wahrheit). Kairos Palästina baut auf den Erfahrungen Südafrikas auf, wo 1985 die erste Kairos-Initiative entstand.
Nicht zuletzt dieser christliche Widerstand beendete den Kampf dort gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und gegen das Apartheidregime. Ziel war die Herstellung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer Demokratie für alle.
Genau dies sind auch die Ziele von Kairos Palästina. Kairos Palästina betrachtet sich nicht als politische Bewegung, vielmehr baut es auf den biblischen Texten auf. Es spricht die Christen in aller Welt in der Sprache an, die sie kennen: in der Sprache des Evangeliums. Es vermittelt eine im Westen oft geflissentlich übersehene Tatsache, dass nämlich Palästina das Land ist, in dem Jesus die erste christliche Gemeinde gründete. Gleichzeitig kommuniziert es eine zentrale Botschaft, dass es in eben diesem Land um die gerechte Sache eines Volkes geht, das endlich in Frieden und Freiheit auf der Grundlage von Gerechtigkeit leben möchte.
Kairos Palästina ist aktiv in Palästina selbst und vor allem international. Delegationen der Gruppe nehmen weltweit an Konferenzen teil, vor allem an kirchlichen Konferenzen, z.B. zuletzt am Weltkirchenrat 2022 in Karlsruhe.
Auch Pfarrer Isaac war dort und ist bis heute einigermaßen entsetzt über die offiziellen deutschen Positionen: extrem einseitig auf der Seite Israels, ungeachtet der israelischen Besatzung über die Palästinenser und durch schlichtes Ausklammern der Realität von Siedlerkolonialismus und Apartheid. Die Mitglieder von Kairos Palästina in Deutschland waren der einzige Trost für Pfarrer Munther und die gesamte palästinensische Delegation in Karlsruhe. Seinen Freund, einen unerschrockenen Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, Professor Ulrich Duchrow, hebt er dabei hervor. Duchrow lasse sich durch niemanden und nichts mehr einschüchtern. Wie die anderen Mitglieder von Kairos Palästina ist auch Pfarrer Munther viel unterwegs und besucht Kirchengemeinden weltweit, um vor Ihnen über die Lage in Palästina und insbesondere die Lage der Christen dort zu reden.
Inzwischen hat Kairos Palästina Partnerorganisationen überall neben Deutschland u.a. in der Schweiz und in den USA. Munther Isaac betrachtet sich als zweite Generation von Kairos Palästina und nennt Abuna Atallah Hanna und Pfarrer Mitri Raheb als die Gründer und die erste Generation.
Die zweite Bewegung, in der er sehr aktiv ist und die er für besonders wichtig hält, ist
Sabeel oder präziser „das ökumenische Zentrum von Befreiungstheologie“, also ein palästinensisches Beispiel der in Lateinamerika entstandenen Befreiungstheologie.
Sabeel zielt ab auf theologische Befreiung durch den christlichen Glauben im Alltagsleben all derer, die unter Besatzung, Gewalt, Unrecht und Diskrimination leiden. Sie betrachten sich als palästinensische Christen, die inspiriert sind durch das Leben und die Lehre von Jesus Christus, der immer auf der Seite der Unterdrückten stand. Sie engagieren sich für Gerechtigkeit und versuchen, Frieden zu schaffen.
Sehr wichtig ist für Sabeel (gegründet 1987 vom Jerusalemer Pfarrer Naim Ateek, einem Anglikaner, mit seinem Buch aus dem Jahre 1989: „Justice and only Justice. A Palestinian Theology of Liberation“) die ökumenische Einheit aller christlichen Gemeinden in Palästina und gleichzeitig die enge Kooperation mit den palästinensischen muslimischen Gemeinden.
(Bild von Webseite Sabeel mit dem ehemaligen katholischen Kardinal Michel Sabah)
Auch Sabeel hat inzwischen weltweit Partnerorganisationen. Sabeel Nordamerika (Friends of Sabeel – North America (FOSNA) hat übrigens die Predigt von Munther Isaac in der Riverside Church in New York am 14. August organisiert. Beide Organisationen unterstützen die gewaltlose Initiative BDS: Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen.
In Europa, vor allem in Deutschland und speziell in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) treffen sie da auf massive Kritik, ja offene Ablehnung. Selbst jeder Dialog, jede Auseinandersetzung über BDS wird abgeblockt. Und dann folgt die Verleumdung der palästinensischen Christen mit der pauschal-billigen Beschuldigung, sie seien Anti-Semiten.
Gerade den deutschen Christen… aber ähnlich auch den Christen in anderen europäischen Staaten und in den USA… wird offensichtlich nicht bewusst, wie sie die Palästinenser von oben herab behandeln. Und wie oft in Deutschland, nicht nur bei Christen, geht man davon aus, dass man grundsätzlich alles besser weiß. Pfarrer Munther klagt an, dass die offizielle Kirche sich anmaßt, den palästinensischen Christen theologische Nachhilfe zu geben, ja, ihnen zu „erklären“, wie sie ihre Unterdrückung durch den Zionismus und den israelischen Siedlerkolonialismus „verstehen“ müssen.
Während der derzeitige US-Präsident Joe Biden sich offen als Zionist bekennt, sind die Deutschen, nicht nur Regierung und etablierte Medien, auch die offizielle Kirche, praktisch Zionisten in ihrer Politik, ihrem Handeln und in ihrer Ideologie. Das war schon über die Jahre hin unerträglich für Palästinenser. Seit dem Beginn des Krieges gegen Gaza, seit Völkermord und erbarmungslose Zerstörung Gaza zur Hölle gemacht haben, sind palästinensische Christen wie Munther Isaac, sind Kairos Palästina und Sabeel nicht mehr bereit, dies stillschweigend hinzunehmen.
Und die Welt hört sie, muss sie anhören, nicht zuletzt in den Predigten von Pfarrer Munther.
Aber dieser klagt und schließt mit ersichtlichem Entsetzen: wir reden und schreiben ununterbrochen gegen den Krieg, gegen den Völkermord, fordern zumindest einen Waffenstillstand: aber bis heute sind wir gescheitert. Die israelische Armee kann ihren Völkermord ungehindert weiterführen, 24 Stunden live auf Bildschirmen und im Internet. Die Waffen schweigen nicht. Und die Welt und die Kirchen schauen zu!
Wer ist Munther Isaac?
Er stammt aus Beit Sahour südlich von Jerusalem, der direkten Nachbarstadt zu Bethlehem. Nach dem Schulabschluss studierte er Civil Engineering an der Universität Birzeit und schloss mit einem Bachelor in Ingenieurswissenschaften ab. Aber dann kam der große Einschnitt auf seinem Lebensweg. Er entschied sich für ein Studium der Theologie und erwarb einen Magister vom Westminster Theologischen Seminar in Philadelphia in den USA. Seinen Doktor machte er in Oxford mit der Dissertation: „A Biblical Theology of the Promised Land”.
Er ist heute Pfarrer und betreut, wie schon oben angeführt, die evangelischen Gemeinden in Bethlehem und Beit Sahour. Sonntags muss er gleich zwei Sonntagspredigten halten. Die erste um 9 Uhr in Beit Sahour, die zweite um 10.30 in Bethlehem.
Er lehrt außerdem am Bethlehem Bible College. Schließlich zeichnet er verantwortlich für die Konferenzen „Christ at the Checkpoint”, die international hochgeschätzt und sehr einflussreich sind. https://christatthecheckpoint.bethbc.edu/small-documentaries/
Neben seiner Arbeit als Pfarrer ist er sehr engagiert, schreibt und publiziert fast ununterbrochen.
Der Berliner AphorismA Verlag hat 2021 sein Buch „On the other Side of the Wall“ ins Deutsche übersetzt und herausgebracht: „Die andere Seite der Mauer“
Seit dem Beginn des Völkermordes in Gaza ist er außerdem international in immer neuen Zoom-Vorträgen zu hören. Und er versucht zu reisen, wann immer das möglich ist, um die Botschaft aus Palästina von Völkermord, Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung und Apartheid zu verbreiten. Vor allem aber, um Druck aus den internationalen Kirchengemeinden und Zivilgesellschaften aufzubauen gegen all die Regierungen im Westen, die bis heute den Völkermord unterstützen und mittragen.
Erzbischof Theodosius von Sebastia am Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Jerusalem
„Abuna Hanna Atallah“
Interview am 11. Sept 2024 im Ambassador Hotel in Jerusalem
Von Helga Baumgarten
„Ich bin Christ und Palästinenser. Ich halte fest an meinem Glauben, der Liebe zu meiner Kirche und ebenso halte ich fest an der Liebe zu meinem Volk. Genau wie ich meiner Kirche zutiefst verbunden bin, bin ich meinem Volk und unserer „Sache“ zutiefst verbunden.“ So stellt sich Erzbischof Theodosius von Sebastia, der im Volksmund schlicht „Abuna“ (unser Vater) Hanna Atallah genannt wird, mir vor. Am 24. Dezember 2005 wurde er in der Grabeskirche in Jerusalem zum Erzbischof ordiniert. Er ist erst der zweite Palästinenser in der Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, der dieses Amt bekleidet.
Er ist eben aus Ramallah zurückgekehrt. Dort sprach er vor 150 Schülern im Scharek Jugendforum, das Jugendliche dafür mobilisiert, dass sie sich aktiv in ihre Gesellschaft einbringen. Sein Tag begann sehr hart: drei Stunden brauchte er, bis er in Ramallah angekommen war. Grund war ein Anschlag (so die israelische Version) mit einem Tanklastwagen bzw. ein Unfall (so die palästinensische Version) an der Abzweigung nach Ramallah nordöstlich von Jerusalem. Ein Soldat wurde getötet, der Lastwagenchauffeur wurde angeschossen und schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht. Die Rückfahrt verlief nicht viel besser. Aber Abuna wollte unseren Termin einhalten, ehe er weiterfahren musste zur nächsten Verpflichtung in Bethlehem.
Allein die Fahrt nach Ramallah und zurück zeigt, dass der Erzbischof ohne jegliche Privilegien – anders als die palästinensische Regierung in Ramallah, die sulta, angefangen von Präsident Mahmud Abbas, aber auch anders als alle in Palästina aktiven internationalen NGOs – reist. Darauf angesprochen meint er, er sei ein Palästinenser wie alle anderen Palästinenser auch. Er betrachte sich weder als besser noch als bevorzugt wegen seiner Stellung in der Kirche. Ganz im Gegenteil: er müsse und wolle alles mit seinen Landsleuten teilen.
auf und dem letztendlich erfolgreichen Kampf dort gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und gegen das Apartheidregime. Ziel war die Herstellung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer Demokratie für alle.
Genau dies sind auch die Ziele von Kairos Palästina. Kairos Palästina ist nicht politisch, vielmehr baut es auf den biblischen Texten auf. Es spricht die Christen in aller Welt in der Sprache an, die sie kennen: in der Sprache des Evangeliums. Es vermittelt eine im Westen oft geflissentlich übersehene Tatsache, dass nämlich Palästina das Land ist, in dem Jesus die erste christliche Gemeinde gründete. Gleichzeitig kommuniziert es eine zentrale Botschaft, dass es in eben diesem Land um die gerechte Sache eines Volkes geht, das endlich in Frieden und Freiheit auf der Grundlage von Gerechtigkeit leben möchte.
Kairos Palästina ist aktiv in Palästina selbst und vor allem international. Delegationen der Gruppe nehmen weltweit an Konferenzen teil, vor allem an kirchlichen Konferenzen, z.B. zuletzt am Weltkirchenrat 2022 in Karlsruhe. Sie besuchen regelmäßig interessierte Gemeinden in Europa und in den USA. Und inzwischen gibt es Partnerorganisationen überall
z.B. in Deutschland, in der Schweiz und in den USA.
Hier sollte der Schwerpunkt gesetzt werden, meint der Erzbischof. Er kritisiert, dass Palästinenser oft im Selbstgespräch aktiv sind, anstatt sich nach außen zu wenden, um die notwendige Unterstützung zu bekommen. Auf meine kritische Nachfrage zu den eher negativen und vor allem pro-israelischen Positionen im Norden, antwortet er sehr diplomatisch: Sicher könnte die Unterstützung durch die Kirchen international besser sein, nicht nur in Worten, sondern vor allem in Taten. Aber er verbindet das gleich wieder mit Selbstkritik: „Wir müssen unsere Sache besser kommunizieren.“
Dann wechseln wir zum problematischen Thema der Auswanderung von Christen aus Palästina. Atallah Hanna sieht darin eine der größten Herausforderungen für die christlichen Gemeinden vor Ort, aber auch und vielleicht mindestens ebenso für die palästinensische Gesellschaft. Die Zahl der Christen in Palästina ist inzwischen dramatisch zurückgegangen.
Er beginnt mit dem Beispiel Gaza. Vor Beginn des Krieges und des Völkermordes in Gaza im Oktober 2023 hätten noch 1.000 Christen dort gelebt. In den ersten Wochen, als man noch aus Gaza herauskam, hätten mindestens 400 davon ihre Heimat verlassen. Damit existieren in Gaza gerade noch 600 Christen: in ihrem Leben bedroht wie alle Menschen dort.
Dramatisch sieht er auch die Situation in der Jerusalemer Altstadt. Viel zu viele Christen könnten die Lage dort nicht mehr ertragen: Angriffe durch extremistische Siedler, ökonomische Probleme und die ständige Herausforderung der Mobilität angesichts der vielen Straßensperren.
Grundsätzlich seien aber alle christlichen Gemeinden und alle historisch christlichen Orte, wie z.B. Bethlehem oder Ramallah, betroffen. Viele Christen würden sich für Auswanderung entscheiden, vor allem wegen der immer unerträglich werdenden Besatzung und infolge ökonomischer Benachteiligungen. Er meint, dass es die Christen selbst seien, die an erster Stelle dagegen kämpfen müssten. Aber dazu brauchen sie die Unterstützung gerade auch von Muslimen. Der Verlust von Christen, so Abuna, sei ein Verlust für Palästina und für alle Palästinenser. Schließlich würden damit Muslime ihre Nachbarn, ihre Freunde, ihre Partner z.B. in Unternehmen verlieren.
Während Christen und Muslime unter ständigen Angriffen in der Jerusalemer Altstadt zu leiden haben, stehen derzeit die Armenier und die Aktionen israelischer extremistischer Siedler gegen sie – unterstützt von der rechtslastigen Stadtverwaltung von Jerusalem – im Mittelpunkt. Die Siedler wollen große Teile des armenischen Viertels konfiszieren. Mit einer großen Delegation stattete Abuna den bedrohten Armeniern einen Solidaritätsbesuch ab. Aber dies ist ein Thema für einen weiteren Brief aus Jerusalem.
Immer wieder betont er, dass die Lösung für die palästinensische Sache überfällig ist: nicht eine Lösung à la Netanjahu, der alles tut, um die Palästinenser los zu werden und der Landkarten zeigt, auf denen nur Israel zu sehen ist: „from the river to the sea.“ Jeder Mensch, egal wer er ist und wo er lebt, muss deshalb, so Abuna, die Palästinenser unterstützen. Denn es geht um Freiheit für Menschen, die schon viel zu lange jeglicher Rechte beraubt sind.
Woher kommt Abuna Atallah Hanna und wie gelangte er an die Spitze der palästinensischen griechisch-orthodoxen Gemeinde?Er stammt aus dem Dorf Rameh in Galiläa, gehört also zu den Palästinensern in Israel und hat einen israelischen Reisepass.Nach seiner Schulbildung in Rameh geht er nach Jerusalem, um dort Griechisch zu lernen. Sein Theologiestudium macht er im griechischen Saloniki. 1991 kehrt er nach Jerusalem zurück, wo er den Namen Theodosios erhält. Schon 1992 wird er als Priester ordiniert. Außerdem wird er zuständig für den palästinensischen Teil des Patriarchats und spricht in dessen Namen in der Öffentlichkeit. 2001 schließlich wird er zum offiziellen Sprecher des Griechisch-Orthodoxen Patriarchats in Jerusalem ernannt. Wegen seines Engagements für die Rechte der Palästinenser, wegen seiner unerschrocken-klaren Kritik an der Besatzung, wird er sehr schnell zum Dorn im Auge Israels. Immer wieder wird er verhaftet und der Aufwiegelung angeklagt.Im Rahmen einer palästinensischen Delegation zum Weltkirchenrat in Genf redete er im Oktober 2000 vor dem UN Menschenrechtsrat: „Die palästinensischen Christen leiden, weil sie Palästinenser sind und in ihrer Heimat Palästina bleiben wollen.“ Er klagte Israel an wegen „ethnischer Säuberung gegen Araber, Muslime und Christen. Jeder meint, das sei ein Konflikt zwischen Arabern und Israelis. Keineswegs, es ist eine Besatzung Israels über die Palästinenser.“
Im Oktober 2001, mitten in der zweiten Intifada, nahm er an einem Marsch christlicher und muslimischer Führer von Jerusalem zum Militärkontrollpunkt vor Bethlehem teil als Protest gegen Israels Angriffe auf religiöse Stätten. Im selben Monat forderte er vom Menschenrechtsrat in Genf, dass dieser die Palästinenser von den israelischen Massakern retten und Druck ausüben müsse, damit die Blockade palästinensischer Städte und Dörfer aufgehoben wird. Im März 2002 wird er an der Allenby Brücke aus Jordanien kommend stundenlang festgehalten. Im August schließlich wird er in der Altstadt in Jerusalem verhaftet und zur Moskobiyeh gebracht. Man klagte ihn an wegen des Verdachts von Kontakten mit terroristischen Organisationen und dem illegalen Besuch von feindlichen Staaten (Syrien und Libanon). Das Verhör dauerte fünf Stunden. Die Antwort von Theodosius war sehr einfach: er muss Syrien und Libanon regelmäßig besuchen, um an religiösen Konferenzen und am inter-religiösen Dialog teilzunehmen. Bei diesen Reisen benutze er seinen vom Vatikan ausgestellten Pass. Israels konfiszierte daraufhin sowohl seinen israelischen als auch seinen Vatikan-Pass.
Theodosius protestierte, wo immer er konnte: in der Presse, in Konferenzen und bei öffentlichen Ansprachen. Er sprach im Klartext von einer Diffamierungs-Kampagne. Israel versuche, die palästinensische Sache als einen jüdisch-muslimischen Konflikt darzustellen. In Wirklichkeit aber wollten sie die kritischen christlichen Stimmen zum Schweigen bringen.
Seine Antwort darauf: „Wir haben immer darauf bestanden, dass die Kirche in Palästina allen Palästinensern dient, denn sie ist eine Kirche für die Menschen. Und es ist eine Kirche mit tiefen Wurzeln in diesem Land und in der dort lebenden Gesellschaft von arabisch-palästinensischen Christen und Muslimen.“ Abschließend wies er darauf hin, dass in Syrien über eine Million griechisch-orthodoxer Christen leben, im Libanon mehr als eine halbe Million. Kontakt und Betreuung dieser Glaubensbrüder sei notwendig.
Nach der Entlassung von Patriarch Irenaios, der des Verkaufs von Eigentum der Kirche an israelische Siedler angeklagt wurde, wird er vom neuen Patriarchen Theophilos III am 24. Dezember 2005 in der Grabeskirche in Jerusalem zum Erzbischof von Sebastia am griechisch-orthodoxen Patriarchat in Jerusalem ordiniert. Er ist erst der zweite Palästinenser in der Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, der dieses Amt bekleidet.
„Meine Botschaft an die Welt, so schließt er unser Gespräch, ist eine Botschaft der Liebe, ein Appell für Frieden, für die Unterstützung meines palästinensischen Volkes. Es geht um die Verteidigung meines unterdrückten und gepeinigten Volkes. Es geht um das Ende des Völkermordes in Gaza. Es ist eine Botschaft gegen Rassismus, gegen Hass, gegen das Böse, für Menschlichkeit und Brüderlichkeit. Diese Botschaft zu vermitteln, immer und immer wieder, ist meine Pflicht als Christ und als Mensch.“
Dr. E’krima Sabri, Mufti und Prediger an der Aqsa-Moschee, hat sich noch nie gescheut, Unrecht klar und furchtlos zu benennen und zu kritisieren. Er hat immer darauf bestanden, dass die Aqsa-Moschee, der haram al-scharif in Jerusalems Altstadt, den palästinensischen Muslimen gehört. Die bis dato letzte Herausforderung kam von Israels Polizeiminister Itamar Ben Gvir, einem überführten Rassisten, als dieser am 26. August mit Hunderten von jüdisch-israelischen Extremisten auf den al-Aqsa Compound eindrang. Vor der israelischen Presse verkündete er, dass jüdische Gläubige das Recht zum Gebet und zum Bau einer Synagoge dort hätten. Er bestand darauf, dass eine neue israelische Politik zum Gebet von Juden auf dem Tempelberg gültig sei. Und er setzte noch ein i-Tüpfelchen auf seine Provokation für alle palästinensischen Muslime: „Wenn ich frei wäre, meine Wünsche durchzusetzen, hätten wir die israelische Fahne schon längst dort gehisst.“
Dies steht in klarem Widerspruch zur israelischen Politik seit dem Juni-Krieg 1967. Der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan hatte gleich nach dem Krieg festgesetzt, dass der muslimische Waqf für den haram verantwortlich sei und dass der Status quo auf diesem für Muslime heiligen Ort erhalten werden müsse. Die israelische Regierung beschloss außerdem, dass Juden, die dort beten wollten, von der Polizei an die Westmauer („Klagemauer“) verwiesen werden.
Seit Jahren sind aber jüdische “Tempelberg-Extremisten“ aktiv. Der erste war Gershom Salomon, der in den siebziger und achtziger Jahren eine winzige Gruppe von „Temple Mount Faithful“ (die Getreuen des Tempelbergs) leitete, die einmal jährlich versuchte, den haram zu betreten, aber immer von der Polizei daran gehindert wurden. Inzwischen sind es Tausende, die zu den Tempelberg-Extremisten gehören und dort nicht nur beten, sondern auch den Tempel wiederaufbauen wollen.
Die offizielle israelische Reaktion auf Ben Gvir wurde am klarsten von Verteidigungsminister Gallan artikuliert: „Den Status quo auf dem Tempelberg zu untergraben, ist unnötig und unverantwortlich. Ben Gvirs Aktionen bringen Israel in Gefahr.“ Allerdings hat die Regierung Netanyahu schon seit Jahren nichts dagegen unternommen, dass der geltende Status quo stillschweigend aufgeweicht wurde. Innenminister Moshe Arbel von der religiösen Shas-Partei forderte dagegen klar, dass Ben Gvir in seine Grenzen verwiesen werden müsse.
Am deutlichsten formulierten führende jüdischer Rabbiner ihre absolute Ablehnung:
„Wir glauben alle an einen Gott und wollen Frieden zwischen den Nationen. Wir dürfen es Extremisten nicht erlauben, uns zu führen“, so Israels ehemaliger Oberrabbiner Yitzhak Yosef, dem sich andere Oberrabbiner anschlossen. Fünf von ihnen veröffentlichten sogar ein Video, in dem sie alle Besuche von Juden auf dem Tempelberg/al-Aqsa verurteilten: „… diese Minister repräsentieren nicht das Volk Israel… Die meisten Juden in Israel und überhaupt weltweit würden nicht auf den Tempelberg gehen…“.
Zwei Zeitungen der haredim (ultraorthodoxe Juden), Yated Ne’eman und Haderech, veröffentlichten Anzeigen, in dem sie Ben Gvirs Eindringen auf den haram scharf verurteilten. „Seit Generationen bestimmt die jüdische halacha, dass es Juden verboten ist, auf den Tempelberg zu gehen“. Eine der Anzeigen auf Seite eins war sogar sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch!
E’krima Sabri formulierte in einem Interview auf al-Jazeera sehr eindringlich seine Position: al-Aqsa ist ein heiliger Ort für den Islam, für alle Muslime, vor allem für palästinensische Muslime. Allein die Idee, dass dies von irgendeiner Seite bestritten oder herausgefordert werden könnte, ist Anathema. Bei meinem Besuch in seiner Wohnung in Ost-Jerusalem am vergangenen Mittwoch (4. September) analysierte er Ben Gvirs „Angriff“ auf al-Aqsa, wie er formulierte: Ben Gvir sei davon ausgegangen, dass die Palästinenser, die Muslime in der arabischen Region, in einer Position der Schwäche seien. Aus seiner vermeintlichen Position der Stärke heraus habe er den haram ohne die, laut bestehender Abmachungen, notwendigen Vertreter der waqf betreten. Er sei als Angreifer gekommen und nicht als Gast, der sich an die Regeln hält. Seine Erklärungen vor der Presse seien in sich widersprüchlich, da er das Gesetz einerseits, seine Interpretation göttlichen Gebots andererseits, als Rechtfertigung benutzt habe. Der Mufti wies deshalb Ben Gvirs „Angriff“ scharf zurück. Die Realität sei unzweideutig: al-Aqsa, al-haram al-scharif, sei ein heiliger Ort für den Islam. Er stehe damit über menschlichem Gesetz. E’krima Sabri erläuterte die extreme Situation, die den palästinensischen Muslimen durch die israelische Besatzung, insbesondere durch die derzeitige rechtsextreme Regierung, aufgezwungen wird. Gläubige werden immer wieder daran gehindert, zum Gebet den haram al-scharif zu betreten. Deshalb gibt es inzwischen eine religiöse Anordnung (fatwa), dass alle Muslime an der Stelle, wo sie von der Polizei am Weitergehen gehindert werden, beten sollen. Dieses Gebet ist dem Gebet in der Aqsa-Moschee gleichgestellt.
Nur wenige Tage zuvor, am 2. August, hatte E’krima Sabri während des Freitagsgebetes für die Seele des ermordeten Ismail Haniyeh, Vorsitzender des Hamas Politbüros, gebetet.
Die israelische Reaktion ließ nicht auf sich warten. Der Mufti war kaum in seiner Wohnung angekommen, als ein Großkommando von Geheimdienst, Polizei und Grenzpolizei in Armeeuniform dort auffuhr. Er wurde verhaftet und nach Westjerusalem in die Moskobiyeh, das zentrale Jerusalemer Gefängnis, gebracht. Man verhörte ihn, klagte ihn der Unterstützung des Terrorismus und der Aufhetzung an. In einem administrativen Beschluss der Polizei, der schließlich nach fünf Stunden erfolgte, wurde ihm das Betreten des haram al-scharif für sechs Monate verboten.
Die Solidarität, die er erhielt, war überwältigend:
Arabische Knesset-Abgeordnete wie Ahmed al-Tibi und Ayman Odeh, ehemalige Knesset-Abgeordnete wie Mohammed Barakeh ebenso wie Bürgermeister der palästinensischen Städte und Dörfer in Israel besuchten ihn. Zu den Besuchern gehörte auch Atallah Hanna, Erzbischof von Sebastia im Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Jerusalem. Der algerische Präsident Abd al Majid Tabbun rief ihn an, gefolgt vom türkischen Präsidenten Erdogan.
Ich fragte ihn nach der Reaktion aus Amman – schließlich ist Jordanien offiziell für al-Aqsa zuständig. Der jordanische Außenminister habe Ben Gvir zwar öffentlich kritisiert, E’krima Sabri aber nicht kontaktiert.
„Und wer hat sie aus Ramallah angerufen?“, fragte ich abschließend.
E’krima Sabri antwortete mit fast süffisantem Lächeln: „Es scheint, dass die Nachricht dort nicht angekommen ist!“ Einen Tag vor unserem Treffen, also am 3. September, wurde der Scheich ein weiteres Mal von der Polizei zur Moskobiyeh gebracht zu einem erneuten Verhör. Wieder ging es um sein Gebet für Ismail Haniyeh. Der Scheich antwortete stereotyp auf die Fragen der Polizei: ich muss und kann im haram für jeden Muslim beten.Nach kurzer Zeit wurde er wieder im Polizeiauto nach Hause gebracht. Ob er in Ruhe gelassen wird, bezweifelt er allerdings.
Wer ist Akrima Sabri?
Seit 1973 ist er Scheich (khatib, also Prediger) in der Aqsa-Moschee. Yasir Arafat ernannte ihn 1994 zum Großmufti von Jerusalem. Diese Position behielt er bis Juli 2006. Nach der Ermordung von Arafat, setzte ihn dessen Nachfolger Mahmud Abbas (im Januar 2006 zum Präsidenten der Palästinensischen Autorität (sulta) gewählt) ab. Grund war wohl seine enorme Popularität, nicht zuletzt auf der Basis seiner klar formulierten Kritik an der israelischen Besatzung und deren Repressalien gegen Muslime auf dem haram. Vor der Beerdigung Arafats in Ramallah hatte der Scheich eine kleine Tasche mit Erde aus einer Ecke des haram gefüllt. Als er vor dem Leichnam Arafats stand, bedeckte er diesen mit der heiligen Erde aus Jerusalem. Schließlich war es Arafats Wunsch gewesen, auf dem haram beerdigt zu werden. Nun begleitete ihn wenigstens Erde vom haram, dank der Aktion von E’krima Sabri.
Heute ist er khatib, also Prediger in al-Aqsa, und Präsident des Obersten Islamischen Rates.
Über die Jahre gab es immer wieder regelrechte israelische Angriffe gegen die Aqsa-Moschee und gegen Muslime auf dem haram. Das begann 1968 mit der Brandstiftung gegen al-Aqsa, als E’krima Sabri noch nicht in Jerusalem predigte. Bei allen anderen gewaltsamen Aktionen seitens Israels war er präsent, z.B. am 8. Oktober 1990, als die Polizei 24 Palästinenser erschoss und zahllose Weitere verletzte, oder im September 2000, als Ariel Sharon auf den haram eindrang und damit die Zweite Intifada auslöste. 2017 schließlich, als Israel den gesamten haram für fast zwei Wochen abriegelte und die Palästinenser daran hinderte, dorthin zum Gebet zu gehen, wurde er vor bab al-asbat (dem Löwentor) durch eine Kugel der Polizei am Fuß und am Rücken verletzt. Er war einer von Zehntausenden von palästinensischen Muslimen, die gegen diesen unglaublichen Eingriff in die religiöse Freiheit in Jerusalem protestierten. Sabri wurde im Krankenhaus medizinisch versorgt und schloss sich sofort wieder den Demonstranten an. “Als wir die enorme Gefahr für al-Aqsa erkannten, nicht zuletzt nachdem der Minister für interne Sicherheit Gilad Eldan arrogant die israelische Souveränität über den gesamten haram deklarierte, bildeten wir eine breite Koalition.“
„Obwohl die Menschen aus der Westbank daran gehindert wurden, nach Jerusalem zu kommen, waren ständig Tausende von Jerusalemern zum Protest-Gebet vor den Toren des haram…. Je brutaler uns die Israelis angriffen, desto mehr Leute schlossen sich uns an. …
Einen derartigen Massenprotest hatte es nie zuvor gegeben.“ Sabri konnte viele junge Menschen zur Teilnahme bewegen. Auch politische Führer, Akademiker und Aktivisten wurden mobilisiert. Ganz Jerusalem stand vereint hinter dem Scheich und sein Bestehen auf Einheit machte ihn noch populärer als er vorher schon war.
Diese jahrzehntelangen Erfahrungen machen E’krima Sabri stolz auf die Jerusalemer, stolz auf alle Palästinenser. Er betont, dass sie immer da sind, immer die ersten und die Wichtigsten bei jedem Protest, gerade auch heute angesichts von Völkermord, Zerstörungen des Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung. Er moniert, dass die Unterstützung aus der arabischen und islamischen Welt nicht groß genug ist. Aber abschließend würdigt er die enorme Solidarität, durchaus auch im Westen, von den USA bis Europa, für die Palästinenser, speziell auch seitens der Studenten an den Universitäten weltweit.
Am Ende unseres Gesprächs betont er noch einmal seine Philosophie:
Man darf seine Überzeugungen nicht aufgeben. Man muss unverbrüchlich an ihnen festhalten. Denn das Recht ist auf unserer Seite.
Stoppt die koloniale Gewalt gegen die Palästinenser
(Law in the Service of Man)
Von Helga Baumgarten
Shawan Jabarin ist derzeit rund um die Uhr beschäftigt. Trotzdem ist er bereit – kurz vor der Abreise zu einem wichtigen Termin in Spanien – mir als ehemaliger Birzeiter Kollegin von seiner kostbaren Zeit zu geben. Wir treffen uns in den Büros von al-Haq im Zentrum des alten Ramallah, im ersten Stock einer der christlichen Schulen der Stadt. Al-Haq sammelt seit Beginn des Völkermordes in Gaza Informationen zur Verletzung des Völkerrechtes in Palästina, speziell in Gaza, aber auch in Ost-Jerusalem und in der Westbank. Diese Informationen werden weitergereicht an internationale Menschenrechtsorganisationen, an den Internationalen Gerichtshof und den Internationalen Strafgerichtshof.
Seit dem frühen Morgen des 28. August konzentriert sich al-Haq auf den verheerenden, zerstörerischen und blutigen Angriff der israelischen Armee auf den Norden der Westbank: Jenin, Tulkarm und Tubas und Nablus sowie Hebron und die Flüchtlingslager im Süden der Westbank. Bis heute wurden wohl 38 Menschen getötet, darunter 9 Minderjährige,
durch Drohnenangriffe und Heckenschützen der Armee, so der Haaretz Aufmacher am 6. September. Das Leben dort ist zum Stillstand gekommen. Die Armee hat alles abgeriegelt, selbst Krankenhäuser. Krankenwagen werden nicht durchgelassen, Familienväter können keine Nahrung für ihre Familien besorgen, die Infrastruktur ist weitgehend zerstört und es gab die ersten Anweisungen an die Bewohner des Flüchtlingslagers Nur Shams bei Tulkarm und des Flüchtlingslagers Jenin außerhalb der Stadt Jenin, das Lager zu evakuieren:
Eine der letzten Interventionen von al-Haq, am 6. August, war ein Bericht an den ICC (gemeinsam mit zwei weiteren palästinensischen Menschenrechtsorganisationen (PCHR, also Palästinensisches Menschenrechtszentrum, und Al-Mezan Zentrum für Menschenrechte aus Gaza). Sie argumentierten, dass der ICC berechtigt ist zur Anklage gegen israelische Staatsangehörige wegen Verbrechen, die auf dem gesamten 1967 von Israel besetzten palästinensischen Gebiet verübt wurden. Die Osloer Verträge bilden keinen Hinderungsgrund zur vollen Ausübung der Jurisdiktion des Gerichtes. Das schließt auch die Ausstellung von Haftbefehlen gegen israelische Bürger und Politiker nicht aus.
Al-Haq wies mit aller Schärfe eine vorherige britische Intervention zurück, in der GB die Meinung vertrat, der ICC habe als Folge der Osloer Verträge keine Jurisdiktion über israelische Staatsbürger wegen Rechtsverletzungen in den palästinensischen Gebieten. https://www.alhaq.org/about-alhaq/7136.html Der Beschluss (Advisory Opinion) des Internationalen Gerichtshofes zur israelischen Besatzung über Westbank, Ost-Jerusalem und den Gaza-Streifen vom 19. Juli 2024 hat das unwiderruflich bestätigt. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass die Besatzung nicht durch die Osloer Verträge aufgehoben wurde.186-20240719-sum-01-00-en.pdf
Entscheidend ist dabei Folgendes:
„Der ICJ kommt zum Schluss, dass Israels Politik und Praxis gegen internationales Recht verstoßen. Die Aufrechterhaltung dieser Politik und dieser Praxis sind ein illegaler Akt…“
„…die fortgesetzte Präsenz Israels im Besetzten Palästinensischen Territorium ist illegal…“
al-Haq nimmt diese Beschlüsse zur Grundlage seiner internationalen Interventionen, die das Ziel haben, die israelische Besatzung zu beenden.
Dabei stehen zwei Forderungen an vorderster Stelle:
Beendigung des Genozides in Gaza
Stopp der Gewalt und der ethnischen Säuberungen in Ost-Jerusalem und in der Westbank.
Shawan Jabarin geht davon aus, dass der Internationale Gerichtshof die eigentliche Arbeit zur Feststellung, ob Israel in Gaza Genozid verübt (nicht nur, wie im Januar festgestellt, dass es plausibel sei, Israels Aktionen in Gaza als Genozid zu bezeichnen) im Oktober 2024 aufnimmt. Er hofft – sehr optimistisch – dass diese Arbeit nach etwa einem Jahr abgeschlossen sein wird.
Foto: Sami Darwish al-Kurd
Terrorismus-Beschuldigung durch Israel am 22.Oktober 2021 gegen sechs palästinensische Menschenrechtsorganisationen, darunter al-Haq
Jabarin kann sich das Lachen nicht verkneifen, als ich ihn darauf anspreche. Für ihn ist die Motivation Israels glasklar. Israel will um jeden Preis die Arbeit von Organisationen wie al-Haq verhindern. Al-Haq genießt weltweit einen ausgezeichneten Ruf. Die Berichte von al-Haq werden international wahrgenommen und geschätzt als verlässliche Informationen über Menschenrechtsverletzungen durch Israel, durch die Armee ebenso wie durch Siedler, in den Besetzten Gebieten, genauer im Staat Palästina, den 145 Staaten anerkennen, darunter inzwischen auch europäische Staaten wie zuletzt Norwegen, Spanien, Irland und Slowenien.
Al-Haq und an erster Stelle Jabarin trifft immer wieder verantwortliche Politiker und Staatschefs, um die Argumente von al-Haq zu kommunizieren.
UN-Menschenrechtsexperten in Genf forderten schon am 25. April 2022 Staaten und internationale Organisationen auf, die finanzielle Unterstützung der sechs Organisationen wiederaufzunehmen, da Israel keinerlei stichhaltige Beweise für seine Beschuldigungen vorgelegt habe. Deutschland und Österreich sind diesem Ruf nicht gefolgt, obwohl sowohl die EU als auch Deutschland als EU Mitglied keine Beweise von Israel erhalten haben.
Noch 2022 hat Österreich al-Haq den Bruno Kreisky Preis verliehen!
Al-Haq wurde 1979 von den palästinensischen Rechtsanwälten Raja Shehadeh, Jonathan Kuttab und Charlie Shammas gegründet, also ganze 10 Jahre vor B’tselem. Das letzte Buch von Raja Shehadeh (2024), wurde inzwischen ins Deutsche übersetzt unter dem Titel:
Den englischen Titel veränderte der deutsche Westend Verlag, indem er hinzufügte: „Von der Hoffnung auf einen gerechten Frieden.“ Viel Hoffnung darauf hat Raja Shehadeh allerdings nicht angesichts des Völkermordes in Gaza. Und diese Auffassung teilt auch Shawan Jabarin.
Raja Shehadeh publizierte in den Jahren, als er al-Haq leitete, bis heute unverzichtbare Bücher. An erster Stelle ist hier zu nennen: „Occupier’s Law. Israel and the West Bank“. Es ist 1985 in einer ersten Auflage und 1988 in einer revidierten Auflage beim „Institute of Palestine Studies“ in Washington erschienen. Jonathan Kuttab ist nach wie vor im Aufsichtsrat von al-Haq. Er ist heute involviert in die Aktion von Mubarak Awad, der das Schiff „Handala“ mit Hilfsgütern nach Gaza bringen wird.
Mubarak Awad versuchte in den achtziger Jahren, die Philosophie Gandhis zur Gewaltlosigkeit in Palästina zu propagieren. Er wurde deswegen prompt von Israel ausgewiesen.
Foto: Sami Darwish al-Kurd
2019 feierte al-Haq das vierzigjährige Jubiläum seiner Arbeit.
Diese Arbeit können Interessierte im Detail nachlesen in der Publikation von Lynn Welchman: „A Global History of the First Palestinian Human Rights Organization“. Das Buch wurde 2021 von der University of California Press publiziert. Es ist offen zugänglich und kann frei heruntergeladen werden.
Ein Artikel über al-Haq kann nicht enden ohne über Khalida Jarrar, derzeit in mörderischer Einzelhaft in Israel, zu schreiben. Ihre Tochter Soha arbeitete seit 2017 bei al-Haq und verstarb völlig unerwartet und viel zu früh – sie war gerade 30 -. Khalida Jarrar war zu diesem Zeitpunkt, 2021, wieder einmal in israelischer Haft. Ihre Rechtsanwälte beantragten die Erlaubnis, dass die Mutter an der Beerdigung der Tochter teilnehmen könnte. Israel lehnte ab. Al-Haq intervenierte mit einer Eilaktion durch Appelle an viele Staaten und vor allem an das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, um die Freilassung auf der Basis humanitärer Gründe zur Teilnahme an der Beerdigung zu erreichen.
Auch diese Intervention stieß auf menschenverachtende Ablehnung durch das israelische Gefängnis-Regime. Heute müssen wir um das Leben von Khalida Jarrar fürchten.
Al-Haq teilt sich die Arbeit zu palästinensischen Gefangenen inzwischen mit ad-Dameer und die Organisation hat gerade einen Appell zur Lage von Khalida Jarrar veröffentlicht:
B’tselem berichtet über Israels systematische Politik des Missbrauchs und der Folter gegen palästinensische Gefangene
Von Helga Baumgarten
B’tselem begann die Arbeit an diesem Grauen erregenden Bericht „Willkommen in der Hölle“ im November 2023. In den wenigen Tagen des Waffenstillstandes wurden israelische Geiseln aus Gaza freigelassen, im Austausch gegen palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen. Die Welt hat sich seitdem ausschließlich auf die freigelassenen israelischen Frauen, Mädchen und Kinder konzentriert. Die palästinensischen Gefangenen wurden in guter kolonialistischer Manier vergessen. Die B’tselem Feldforscher in Gaza und Hebron sprachen mit den freigelassenen Frauen und Mädchen und waren schockiert über die Berichte, die sie hören mussten über die Misshandlungen, denen diese ausgesetzt waren.
Seitdem bekommt die Menschenrechtsorganisation ununterbrochen neue Berichte über Misshandlungen, immer dieselben Berichte über genau dieselben Foltermethoden in der Haft, egal in welchem Gefängnis und in welcher Gegend Palästinas. Sehr schnell war ein klares Muster erkennbar. Im März entschied sich B’tselem zu dem Projekt, das mit einem Riesenarbeitsaufwand und der Konzentration all ihrer Möglichkeiten innerhalb von 5 Monaten abgeschlossen war mit der Publikation des Berichtes Anfang August 2024.
Shai Parnes von B’tselem nahm sich die Zeit, um mir diese Arbeit im Detail zu erklären, als ich am Dienstag vergangene Woche (20. August) das Büro der Menschenrechtsorganisation in Talpiot in West-Jerusalem besuchte.
Auf der Basis von 55 Berichten von freigelassenen Palästinensern (30 aus der Westbank, 21 aus Gaza und 5 Palästinenser aus Israel, also israelische Bürger) zeichnete sich eine „systematische institutionalisierte Politik des kontinuierlichen Missbrauchs und der Folter aller palästinensischer Gefangener“ ab, über die „Willkommen in der Hölle“ detailliert berichtet. Selbst wenn man nur liest, was die Menschen durchmachen mussten, ist dies kaum erträglich.
Sami Khalili aus Nablus, seit 2003 in Haft im Ketziot Gefängnis im Negev, berichtet, wie einigermaßen „akzeptable“ Haftbedingungen ab Mitte Oktober unmenschlich gemacht wurden: “Wir hatten nur noch ein Ziel: Überleben.“ Und er erläutert: „Wir hörten Schreie (aus den Nachbarzellen)…es klang, als ob sie abgeschlachtet würden. So etwas hatten wir noch nie erlebt…. Nach drei Stunden … kamen die Wärter zu uns… sie holten uns aus der Zelle und schlugen uns… sie sperrten 11 von uns in eine Zelle für 4… aus den Fenstern hatten sie das Fensterglas entfernt… es wurde extrem kalt. … Es gab dreimal täglich einen „roll call“: wir mussten knien, Kopf unten, Hände auf den Kopf… wer den Kopf hob, wurde geschlagen…“ (S. 23-24). Die Zellen waren überfüllt und kein Sonnenlicht kam in den Raum. Die Häftlinge hatten keinen Hofgang, sie mussten einfach nur sitzen, permanent…
Thaer Halahleh aus dem Hebron Distrikt berichtet, dass er während der Haft (in Ofer und in Nafha) 191 Tage lang keine Sonne hatte sehen können. (S.29).
Mohammad Srour aus Ni’ilin bei Ramallah erzählt, dass er zwar einmal – eine absolute Ausnahme – einem Richter vorgeführt worden sei. Zuvor hätten ihn aber die Wächter brutal zusammengeschlagen und gewarnt, absolut darüber zu schweigen. Als ihn sein Rechtsanwalt sah (alles lief nur über Video), wie sein Gesicht geschwollen und verletzt war, forderte dieser ihn auf, den Richter zu informieren. Der empfahl ihm lediglich, die Untersuchung durch einen Arzt zu beantragen. Danach wurde er von den Wächtern ein zweites Mal zusammengeschlagen, weil er vor Gericht frei geredet hatte (S.34). Die Gefangenen waren kontinuierlich und vollständig isoliert: weder das Rote Kreuz noch Rechtsanwälte durften kommen. Von Familienbesuch war nie die Rede.
Fouad Hasan, 45, aus dem Nablus-Distrikt erzählt, wie sie mit dem Bus zum Megiddo Gefängnis gebracht wurden. Als sie ausstiegen, wurden sie von den Wärtern begrüßt: „Willkommen in der Hölle“. (S.46).
Durchgängig wurde sexuelle Gewalt ausgeübt: die Genitalien der Gefangenen wurden mit Schlägen traktiert, mit Holz-und Metallteilen. Die Männer mussten sich nackt ausziehen und wurden, nachdem sie misshandelt worden waren, so anderen Gefangenen vorgeführt, um sie noch weiter zu demütigen. Ein Gefangener berichtet, wie einige Wärter ihn am 29. Oktober anal vergewaltigten durch brutale Einführung einer Karotte. (S.58-59).
Immer wieder mussten Amputationen durchgeführt werden wegen Folter und danach fehlender medizinischer Behandlung. Sufian Abu Saleh aus Khan Yunis berichtet, wie ihm infolge der Haft in Sde Teiman sein Bein amputiert wurde. Im April wurde er zurück nach Gaza abgeschoben und musste ohne jede Hilfe alleine durch den Übergang Kerem Shalom humpeln. Und medizinische Weiterbehandlung in Gaza gibt es natürlich nicht.
In einzelnen Kapiteln analysiert B’tselem, wie Israel in seinen Gefängnissen mit den Inhaftierten „umgeht“. Inzwischen muss man von einem Netz von Lagern (mehr als ein Dutzend!) ausgehen, deren alleiniges Ziel es ist, die Palästinenser zu missbrauchen. Menschen werden dorthin gebracht in der klaren Absicht, sie erbarmungslos massivem Schmerz und Leiden auszusetzen. Die Lager sind, um eine klare Sprache zu gebrauchen, Folter-Lager. Der Missbrauch reicht über willkürliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Demütigungen und Erniedrigungen, Zwang zum Hungern (die Gefangenen verlieren in wenigen Monaten bis zu 20 kg oder mehr, S.77), unhygienische Bedingungen, Schlafentzug, Verbot von religiösen Handlungen, Konfiszierung von Eigentum, privat oder kollektiv, bis hin zur Verweigerung adäquater medizinischer Behandlung.
Internationales Recht verbietet dies unmissverständlich, wie B’tselem im Detail und unter Bezug auf die einzelnen Rechtsquellen aufzeigt. B’tselem weist auf die zentrale Rolle von Sicherheitsminister Ben Gvir hin, der für die Politik in israelischen Gefängnissen verantwortlich ist. Unterstützt wird er dabei vom gesamten Kabinett und von Ministerpräsident Netanyahu. Spätestens seit dem Oktober 2023 wird diese Dehumanisierung der Palästinenser von Politikern propagiert und in der breiten Öffentlichkeit nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich positiv aufgenommen.
Eine besondere Rolle spielt Keter, die „IRF“, (initial reaction force), von Palästinensern schlicht „death squad“, also Todeskommandos genannt. IRF ist aktiv seit 2010, vor allem im Gefängnis Ketziot im Negev und in Ofer bei Beitunia, gleich südwestlich von Ramallah.
B’tselem berichtet von inzwischen mindestens 60 Toten in israelischer „Haft“, 48 davon aus Gaza, 12 aus der Westbank bzw. aus Israel. Der Bericht führt drei Todesfälle, besser Beispiele von Mord, in den Gefängnissen an:
Thaer Abu Asab, 38 Jahre alt, im Gefängnis Ketziot im Negev. (S.91)
Arafat Hamdan, 25, in Ofer. Er hatte Diabetes und wurde nicht behandelt. (S.94).
Mohammad as-Sabbar, 20, aus Dhahiriyya südlich von Hebron. Er litt unter einer Magenkrankheit und musste mit Diät leben, die ihm verweigert wurde. (S.99).
Der letzte Tote ist der 19jährige Zahir Raddad. Er wurde am 23. Juli in Tulkarm verhaftet und als menschlicher Schutzschild auf einem Armeejeep gefesselt. Er starb am 25. August infolge der Verletzungen, die er so erlitt. Vom 23. Juli an wurde er im Krankenhaus in Israel gefangen gehalten und sein Leichnam wurde der Familie bis dato nicht zur Beerdigung überstellt. (Information von ad-Damir, Menschenrechtsorganisation in Ramallah). Niemand wurde für diese Morde, denn anders kann man sie nicht bezeichnen, zur Verantwortung gezogen.
Oft vergessen wird die schlichte Tatsache, auf die der Bericht ausdrücklich hinweist:
Seit 1948, also seit der Nakba, seit der Gründung des Staates Israel, werden die Palästinenser aus politischen Gründen in Haft genommen, immer wieder zuerst und vor allem in „Administrativhaft“, also ohne Anklage und ohne reguläres Gerichtsverfahren. B’tselem geht von mindestens 800.000 Häftlingen seit 1967 aus, etwa 20 % der Gesamtbevölkerung!
Vor dem Oktober 2023 gab es schon 5.192 sogenannte „security“ (Sicherheits-) Gefangene,
1.319 davon saßen in Administrativhaft. Im Juli 2024, also vor Abschluss des Berichtes, war die Zahl auf 9.623 angestiegen, darunter 4.781 administrative Häftlinge. Seit dem Oktober sind Tausende von Menschen festgenommen, über wechselnde Perioden festgehalten und wieder freigelassen worden. Der entscheidende Grund, so das Prinzip, ist schlicht und einfach die Tatsache, dass diese Leute Palästinenser sind.
Der Bericht von B’tselem endet mit einem eindringlichen Appell:
„Wir appellieren an alle Nationen und an alle internationalen Institutionen und Organisationen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Grausamkeiten, mit denen das israelische Gefängnis-System die Palästinenser quält, sofort zu beenden, und das israelische Regime, das dieses System etabliert hat und in Gang hält, als ein Apartheid-Regime zu benennen, das ein Ende finden muss.“
Wer ist B’tselem?
B’tselem wurde 1989 als Menschenrechtsorganisation gegründet. Das Ziel der Organisation ist es, israelische Politik in den Besetzten Gebieten zu ändern, um die Menschenrechte der Palästinenser zu schützen.
Yuli Novak ist seit Juni 2023 Direktorin und Nachfolgerin von Hagai El-Ad, der seit 2014 die Organisation leitete. 38 Angestellte arbeiten bei B’tselem. Die Arbeit stützt sich zuerst und vor allem auf die Feldarbeit, die inzwischen Palästinenser ausführen unter extrem schwierigen Bedingungen: in der Westbank, in Ost-Jerusalem und in Gaza.
Finanzielle Unterstützung erhält B’tselem aus Europa und aus den USA sowie von Privatleuten. Das Budget beträgt mehr als 2 Millionen Dollar.
Aufsehen erregte der Bericht vom Januar 2021, in dem Israel, vom Fluss bis zum Meer („from the river to the sea“) als Apartheid-Regime analysiert wurde.