#1: Israels „Rache“: Wie Linke zu Hamas-Führern werden
3.30 morgens, am 23.Oktober: Omar Assafs Frau weckt ihren Mann auf: die Armee ist vor unserem Haus vorgefahren. Zieh Dich an!
Für Omar Assaf nichts Neues. Als linker Aktivist, lange Jahre Gewerkschafter an der Universität Birzeit, gewähltes Mitglied im Gemeinderat von el-Bireh, ist er Verhaftungen gewohnt. Er meint, dass er mindestens schon 10 Mal israelische Gefängnisse von innen durchstehen musste.
Aber am 23. Oktober war alles anders. Früher klingelte die Armee und er machte die Tür auf. Diesmal sprengte das Armeekommando die Haustür. Er wurde sofort gefesselt, Binde vor die Augen und nach unten in einen der wartenden Jeeps gebracht: Dort wurde er regelrecht hineingeworfen, andere Verhaftete lagen ebenfalls schon auf dem Boden. Sein Sohn wurde derweil ebenfalls aus seiner Wohnung, über der Wohnung des Vaters, gelegen, geholt, zusammengeschlagen und nach unten auf die Straße gebracht, wo er gefesselt knien musste. Seine Frau und die Kinder und Enkelkinder wurden in das Schlafzimmer gesteckt und isoliert von allem.
Zuerst wurde Omar mit den anderen Gefangenen nach Etzion südlich von Hebron gebracht, wo er einige Tage unter unsäglichen Bedingungen festgehalten wurde. Dann wurde er ins Gefängnis Ofer, nordwestlich von Jerusalem (direkt außerhalb des Dorfes Beitunia), verlegt.
Nach zehn Tagen … er hatte eigentlich, wie schon früher, Administrativhaft erwartet… wurde er dem Richter vorgeführt. Die Anklage warf ihn erst einmal um: wichtiger Führer in der Hamas: ein säkularer linker Aktivist! Der Richter akzeptierte die Anklage auf der Basis von geheimen Papieren.
Nach einem Monat wurde er erneut dem Richter vorgeführt. Die Anklage habe sich als falsch erwiesen. Omar atmete auf: nun würde er endlich entlassen. Aber er hatte nicht mit dem gerechnet, was nun kommen würde: Er sei zwar kein Hamas Führer, aber er sei (Omar ist 74 Jahre alt) Führer im „harak shababi“, bei der Jugend-Revolte. Diese war 2011 gegründet worden als Reaktion auf den „arabischen Frühling“, vor allem in Tunesien und Ägypten.
Im Gefängnis Ofer wurde er, zusammen mit zehn weiteren Gefangenen in eine Zelle gesteckt, in der es sechs Betten gab. Zuvor musste er sich bis auf die Unterhose ausziehen und seine Kleidung abgeben. Dafür erhielt er eine Hose und ein T-Shirt. Zwei Monate lang konnte er sich nicht umziehen. Zwar gab es alle drei bis vier Tage die Möglichkeit, sich zu duschen: 12mg Seife gab es für die kalte Dusche in den Wintermonaten des palästinensischen Berglandes. Zum Abtrocknen ein halbes Handtuch. Dann gab es keine Alternative, als in die alte Kleidung zu schlüpfen.
In die Zelle kam kein Sonnenstrahl. Der Sauerstoff wurde immer wieder knapp, weil viel zu viele Menschen auf zu kleinem Raum zusammengepfercht waren. Im Unterschied zu früher waren Gefangene aller Organisationen, von Hamas bis zur PFLP, in einer Zelle, egal wie alt und egal woher. Ausgang aus der Zelle gab es nicht täglich. Rundgang draußen im Gefängnishof für maximal zehn Minuten. Die Zeit in der Dusche war etwas länger bemessen.
Die Haftbedingungen waren enorm verschärft, dank Polizeiminister Ben Gvir: Gefangene hatten keinen Zugang zu Radio und Fernsehen. Besuche durch Familie waren verboten.
Von der Außenwelt waren sie systematisch abgeriegelt. Dafür mussten sie den Horror aus der nebenan gelegenen Abteilung mithören, der Abteilung 23, in der nur Gefangene aus Gaza waren. Diese waren mit Ketten gefesselt, rund um die Uhr. Die Matratzen zum Schlafen wurden ihnen 5 Uhr morgens weggenommen und erst abends um 7 Uhr wieder zurückgegeben. Omar hörte, wie sie immer wieder zusammengeschlagen wurden, sich auf den Boden werfen und oft bellen mussten wie Hunde.
Der Arzt Dr. Adnan al-Barsh, 53, Direktor der orthopädischen Abteilung am Shifa-Krankenhaus in Gaza, starb am 19. April 2024 infolge von Folter in Ofer. Er war direkt bei seiner Behandlung von Patienten von der Armee verhaftet und nach Ofer gebracht worden.
Omar hatte derweil Glück. Sein Rechtsanwalt durfte ihn sehen und konnte seine Freilassung durchsetzen. Aber auch er musste zuvor Unsägliches durchmachen. Als er an einem Tag zusammengeschlagen wurde, erlitt er eine Kopfverletzung. Ein Arzt kümmerte sich tatsächlich um ihn: die Kopfverletzung wurde aber nicht medizinisch korrekt desinfiziert und behandelt durch Zunähen der klaffenden Wunde. Innerhalb von kurzer Zeit entzündete sich alles und Omar konnte sich wenigstens beim zuständigen Richter beschweren. Nach knapp sechs Monaten Haft in Ofer hatte Omar 29 kg abgenommen: es gab nie genug zu essen. Sein Bild, direkt nach der Freilassung, erschüttert.
Inzwischen wurden in israelischen Gefängnissen in der Westbank mindestens 19 Menschen zu Tode gefoltert. Der bis heute Letzte in dieser Liste des Grauens ist Scheich Mustafa Muhammad Abu Ara, 63. Obwohl er schwere gesundheitliche Probleme hatte und intensive medizinische Versorgung gebraucht hätte, scherte das niemand im Gefängnis Ramon, wo er seit seiner Verhaftung im Oktober 2013 festgehalten worden ist. Wie alle palästinensischen Gefangenen wurde er über Monate gefoltert. Als sich sein Zustand extrem verschlechterte, brachte man ihn ins Krankenhaus, wo er kurz darauf verstarb.
Im Foltergefängnis Sde Teiman in der Negev Wüste, dem israelischen Guantanamo, wurden seit Oktober 35 Menschen regelrecht ermordet, wie Reuters auf der Basis eines UN Berichtes vom 31. Juli meldet. „In Sde Teiman wurden sie in einer Art Käfig festgehalten, nur mit Windeln bekleidet über längere Perioden…“
Und Volker Türk, der UN High Commisioner, erläutert den Bericht: „Die Zeugenaussagen, die mein Büro… gesammelt hat, weisen auf entsetzliche Taten hin, wie Waterboarding und das Hetzen von Hunden auf die Gefangenen, in flagranter Verletzung des internationalen Menschenrechtes sowie des internationalen humanitären Gesetzes“.
Inzwischen hat ein israelischer Arzt, so Haaretz, auf ein extremes Beispiel von Sodomie durch Soldaten in Sde Teiman hingewiesen, bei dem der so sexuell gefolterte fast starb. Darüber mehr Details weiter unten. Und das Foltern geht ungemindert weiter, unterstützt von großen Teilen der israelischen Gesellschaft, wie Faris Giacaman am 31. Juli in Mondoweiss überzeugend analysiert.
Palästinensische Quellen (ad-Dameer) melden am 30. Juni allein für die Westbank 9.700 politische Gefangene, davon mindestens 3.380, die unter Administrativhaft gestellt wurden, also ohne Anklage und ohne reguläres Gerichtsverfahren. Vor dem 7. Oktober waren es im Vergleich 5.200 Gefangene und 1.264 Administrativ-Häftlinge!
Erst gestern, am 2. August, wurde der 85-jährige Scheich Akrima Sabri zunächst unter Administrativhaft gestellt, die problemlos auf sechs Monate festgelegt und dann je nach Belieben der Geheimdienste und der Armee verlängert werden kann. Akrima Sabri war festgenommen worden, nachdem er beim Freitagsgebet in der Aqsa-Moschee Trauer für den ermordeten Scheich Ismail Haniyeh, Leiter des Politbüros der Hamas, ausgesprochen hatte.
Die fadenscheinige Anklage, die sein Rechtsanwalt sofort auf der Basis geltenden israelischen Rechts zurückwies, bestand aus Hetzrede und Anti-Semitismus!!!
Aus dem Gazastreifen wurden seit dem Oktober 2023 mindestens 8.000 Menschen nach Sde Teiman verschleppt als angebliche Hamas-Terroristen, die für den 7. Oktober verantwortlich seien. Nach einigen Monaten wurden mehr als 4.000 freigelassen. Offensichtlich waren sie also weder Terroristen noch hatten sie irgendetwas mit dem 7. Oktober zu tun.
Folter in Sde Teiman
Ein israelischer Arzt im Feldlazarett von Sde Teiman, Dr.Youel Donchin, berichtete auf der israelischen Fernsehstation Kan (so die Times of Israel), dass ihm ein Gefangener mit gebrochenen Rippen und klaren Zeichen physischen Missbrauchs auf mehreren Knochen vorgeführt worden sei. Er bestätigte, dass ein runder Gegenstand tief in das Rektum des Gefangenen eingeführt worden war. Das habe einen Riss im Darm sowie Verletzungen in einer Lunge verursacht. Nur eine Notoperation hätte. hier helfen können. Inzwischen berichtet Haaretz am 1. August, dass der gefolterte Gefangene wieder aus dem Krankenhaus nach Sde Teiman gebracht worden sei. Ärzte von Human Rights Israel sind entsetzt: „Dass man den Gefangenen zurück in die Klinik nach Sde Teiman gebracht hat, wo er gefoltert worden war, ist ein ernstes ethisches und professionelles Versagen der medizinischen Verantwortlichen und der Krankenhausverwaltung, die in seine Behandlung involviert waren…. Dadurch schufen sie die Möglichkeit, dass der Gefangene wieder den Soldaten ausgesetzt werden könnte, die unter dem Verdacht stehen, ihn vergewaltigt zu haben….“
Wer ist Omar Assaf?
Omar Assaf ist linker Aktivist, war lange Jahre Gewerkschafter an der Universität Birzeit, er war gewähltes Mitglied im Gemeinderat von Ramallah. Damit ist er ein Dorn im Auge der israelischen Besatzung (siehe Artikel). Aber auch die palästinensische „Herrschaft (sulta auf Arabisch)“ nimmt ihn immer wieder ins Kreuzfeuer. Immer wieder wird er auch von ihnen in Haft genommen.
Als Nizar Banat, wohl der unerbittlichste Kritiker von Mahmud Abbas und seiner Kollaborateurs-Clique, 2021 von Fatah-Schergen in seiner Heimatstadt Hebron spricht und einfach ermordet wurde, demonstrierten Palästinenser überall in den besetzten Gebieten. Die zentrale Demonstration fand in Ramallah statt. Omar Assaf gehörte zu den Mitorganisatoren und stand in der ersten Reihe der Demonstranten.
Dr. Mamduh Aker, ehemaliger Vorsitzender des Aufsichtsrates der Universität Birzeit, verlas am 24. Juni 2021 ein Manifest der „Koalition ziviler und sozialer Institutionen“. Darin wurden Abbas und seine sulta scharf verurteilt, während eine klare Forderung nach Gerechtigkeit und Freiheit erhoben wurde.
„Wir klagen Präsident Mahmus Abbas und die gesamte politische Führung an und machen sie verantwortlich für das, was heute Nizar Banat angetan wurde.
Wir fordern die Entlassung der Regierung und die Bildung einer Übergangsregierung von unabhängigen nationalen Persönlichkeiten, um Wahlen vorzubereiten für den Legislativrat sowie für einen neuen Präsidenten innerhalb von sechs Monaten.
Wir fordern die Entlassung aller Sicherheitsorgane. Wir fordern, dass alle, die den Befehl zur Tötung von Nizar Banat, den Märtyrer der Meinungsfreiheit, gegeben und diese ausgeführt haben, zur Verantwortung gezogen werden.
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Unser Volk schreit: Wir haben genug
Unser Volk schreit: Genug ist genug.“
(Baumgarten 2021: Kein Frieden für Palästina. S.176-178)
Schon vor dieser kaum zu fassenden Vergewaltigung berichtete CNN am 11. Mai auf der Basis von drei Whistleblowern aus Sde Teiman von flächendeckendem Missbrauch von Gefangenen, darunter z.B. extremer Einsatz von Fesselung durch Ketten, Amputationen infolge von zu langem und viel zu engem Anlegen von Handfesseln, Schläge, keine medizinische Versorgung, willkürliche Bestrafungen, demütigende, erniedrigende und entwürdigende Bestrafungen wie z.B. Verbot, die Toiletten zu benutzen etc.
Am 29. Juli wurden zehn Soldaten von Militärpolizei verhaftet wegen des Verdachtes auf Misshandlung von Gefangenen. Die Reaktion war eine regelrechte Meuterei mit einem rechtsradikalen Mob, Siedlern, Knesset Abgeordneten und Ministern, die sowohl Sde Teiman als auch das Militärgefängnis in Beit Lid, zu dem die festgenommenen Soldaten gebracht worden waren, versuchten zu stürmen. Inzwischen sind zwei der Soldaten freigelassen. Die Haft der verbliebenen 10 Soldaten wurde zunächst bis Sonntag, 4. August, verlängert.