#4: Vom unspektakulär-unerträglichen Alltag der PalästinenserDas Problem der Mobilität
Von Helga Baumgarten
Gaza, Jerusalem, Westbank: nur Horrornachrichten, Völkermord, Tod und Zerstörung, ethnische Säuberungen, Siedlergewalt… man weiß nicht, wo man anfangen und wo man aufhören muss.
Aber jenseits des Horrors gibt es den Alltag, unspektakulär einerseits, unerträglich und unmenschlich andererseits. Davon soll heute die Rede sein.
Die Universität Birzeit liegt etwa eine halbe Stunde nordöstlich von Jerusalem. Wie kommt man also von Jerusalem, Jerusalem-Ost (also das seit 1967 besetzte Ost-Jerusalem) nach Birzeit? Vorbei sind die Zeiten, als Professoren und Studenten aus Ost-Jerusalem auf direktem Weg, also über Ramallah und von dort nach Birzeit, zu ihrer Universität fahren konnten, entweder mit dem Privatauto oder mit den „Öffentlichen“, d.h. Bus oder Sammeltaxi. Seit dem Beginn des Osloer-Prozesses muss man ständig Armee-Sperren passieren. Einige davon sind in Permanenz da, wie z.B. vor dem Flüchtlingslager Kalandia nördlich von Jerusalem: jeder, der aus Jerusalem Richtung Ramallah oder aus Ramallah Richtung Jerusalem möchte, muss hier durch. Inzwischen kann das Stunden dauern und manchmal gibt es überhaupt kein Durchkommen, weil die Armee beschließt, die Sperre ganz zuzumachen.
Alternativ gibt es längere und kürzere Umwege, um nach Birzeit zu kommen. Der längere Umweg, den ich mit vielen Kollegen vorziehe, ist gut und gerne 15 km länger. Wenn man Glück hat, kommt man ungehindert, also ohne Armee-Sperren und Kontrollen, nach Birzeit: man fährt raus aus Jerusalem Richtung Osten, dann wendet man Richtung Norden, auf der Straße, die eigentlich nach Nablus führt und gleichzeitig Jerusalem mit zahllosen israelischen kolonialistischen Siedlungen verbindet. Wenige Kilometer nach der Siedlung Ofra biegt man wieder Richtung Westen und kommt dann aus nordöstlicher Richtung in die Stadt Birzeit und von dort zu der etwas außerhalb gelegenen Universität.
Aber man kann auch Pech haben, wenn nämlich die Armee beschließt, „fliegende“ Sperren zu errichten: das kann einen sehr viel Zeit kosten. Wenn man also einen wichtigen Termin hat: eine Lehrveranstaltung, eine Prüfung, einen Termin bei der Administration, empfiehlt es sich, für eine Strecke, die üblicherweise in einer Stunde zu bewältigen ist, drei Stunden einzukalkulieren. Und selbst das klappt immer öfter nicht: wenn nämlich die Armee schlicht die Sperren nach Birzeit zumacht: eine rote Schranke wird quer über die Straße runtergelassen, zwei Soldaten davor postiert: und das war es dann.
Israel argumentiert, dies alles aus Sicherheitsgründen notwendig. Unklar ist, um wessen Sicherheit es dabei geht: wahrscheinlich zuerst und vor allem die Sicherheit der kolonialistischen Siedler, die meinen, die Westbank gehöre alleine ihnen. Aber meist geht es gar nicht um Sicherheit, sondern einzig und allein um Schikane: Schikane gegen die Palästinenser. Immer wieder steht man ungeduldig vor einer fliegenden Armeesperre: 15 Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde… und dann ziehen die Soldaten plötzlich unvermittelt ab und alle können ungehindert weiterfahren. Man fragt sich dann natürlich: was ist denn jetzt plötzlich aus der Sicherheit geworden?
Gestern fuhr ich gegen 9.30 los aus Jerusalem. Nur wenige Kilometer Richtung Norden, am ersten Kreisel, von dem aus man zu einer Siedlung abbiegen kann, stand die Armee und kontrollierte alle Autos. Autos mit Westbank-Nummernschildern (anders als die gelben Nummernschilder aus Israel bzw. Jerusalem, inklusive Jerusalem-Ost) mussten umdrehen, zurück Richtung Westbank. Alle Zufahrtsstraßen aus palästinensischen Dörfern waren abgeriegelt. Als ich weiter Richtung Birzeit fuhr, standen rechts und links der Straße endlos viele Autos mit Westbank Nummern, die warteten, wie sich die Lage entwickeln würde.
Als ich nachmittags gegen 15 Uhr zurückkam, gab es keine Armeesperren mehr, keine Autos warteten mehr auf der Seite und alle Zufahrtsstraßen waren wieder offen. Die Herren des Landes hatten ihren Sklaven wieder einmal bewiesen, dass sie Sklaven sind.
Dieselbe Erfahrung müssen Menschen machen, die aus Jerusalem nach Bethlehem möchten und umgekehrt. Entweder sucht man einen Umweg und hofft, dass der frei passierbar ist, oder man konfrontiert die zentrale Armee-Sperre am Ausgang von Bethlehem, direkt an der Mauer: anders als Birzeit darf sich Bethlehem einer Mauer rühmen! Jerusalemer, die z.B. aus den verschiedensten Gründen eine Wohnung in Bethlehem haben, aber täglich hin-und herfahren müssen: die Kinder zur Schule, die Eltern zur Arbeit, helfen sich aus, indem ein Auto auf der Bethlehemer Seite bleibt, ein anderes auf der Jerusalemer Seite. Den Armee-Kontrollpunkt passiert man dann zu Fuß, was meist schneller geht. Aber das ist lediglich eine Möglichkeit für die gutsituierten Palästinenser, die tatsächlich zwei Autos haben.
Religiöse Feste sind inzwischen zum jährlichen Alptraum für alle Gläubigen geworden, egal ob Christen oder Muslime. Die Armee entscheidet, wer aus der Westbank nach Jerusalem darf. An Ostern dieses Jahr war es praktisch unmöglich für Christen aus der Westbank, an den Osterfeierlichkeiten in Jerusalem teilzunehmen. Muslime, die während des Ramadan in Jerusalem auf dem haram al-sharif beten wollten, durften dies nur, wenn sie über 50 (Frauen) bzw. über 60 (Männer) waren. Und selbst darauf konnte man sich nicht verlassen.
Jede Fahrt von Jerusalem Richtung Norden: Nablus oder Jenin, ist so gut wie unmöglich bzw. ein einziges unkalkulierbares Abenteuer. Dasselbe gilt für eine Fahrt nach Hebron oder weiter südlich. Man ist mit endlosen Armee-Sperren konfrontiert und Übergriffe von Siedlern finden immer öfter statt.
Finanzminister Smotrich, selbst ein Siedler, der dabei ist, die Westbank in einer Art verdecktem Staatsstreich zu annektieren, lässt inzwischen überall neue Straßen bauen, damit Siedler nach Jerusalem und nach Israel fahren können auf Straßen, auf denen keine Palästinenser fahren: also offene Apartheid: Straßen für die Sklaven, Straßen für die Herren.
Große Highways, fast wie Autobahnen, für die Herren, kleine, enge Straßen für die Sklaven.
Und die Welt schaut zu.