#10: Ein unermüdlicher Kämpfer für ein Ende des „Krieges“ gegen die Menschen in Gaza

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Erzbischof Theodosius von Sebastia am Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Jerusalem

„Abuna Hanna Atallah“

Interview am 11. Sept 2024 im Ambassador Hotel in Jerusalem

Von Helga Baumgarten

„Ich bin Christ und Palästinenser. Ich halte fest an meinem Glauben, der Liebe zu meiner Kirche und ebenso halte ich fest an der Liebe zu meinem Volk. Genau wie ich meiner Kirche zutiefst verbunden bin, bin ich meinem Volk und unserer „Sache“ zutiefst verbunden.“ So stellt sich Erzbischof Theodosius von Sebastia, der im Volksmund schlicht „Abuna“ (unser Vater) Hanna Atallah genannt wird, mir vor. Am 24. Dezember 2005 wurde er in der Grabeskirche in Jerusalem zum Erzbischof ordiniert. Er ist erst der zweite Palästinenser in der Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, der dieses Amt bekleidet.

Er ist eben aus Ramallah zurückgekehrt. Dort sprach er vor 150 Schülern im Scharek Jugendforum, das Jugendliche dafür mobilisiert, dass sie sich aktiv in ihre Gesellschaft einbringen. Sein Tag begann sehr hart: drei Stunden brauchte er, bis er in Ramallah angekommen war. Grund war ein Anschlag (so die israelische Version) mit einem Tanklastwagen bzw. ein Unfall (so die palästinensische Version) an der Abzweigung nach Ramallah nordöstlich von Jerusalem. Ein Soldat wurde getötet, der Lastwagenchauffeur wurde angeschossen und schwerverletzt ins Krankenhaus gebracht. Die Rückfahrt verlief nicht viel besser. Aber Abuna wollte unseren Termin einhalten, ehe er weiterfahren musste zur nächsten Verpflichtung in Bethlehem.

Allein die Fahrt nach Ramallah und zurück zeigt, dass der Erzbischof ohne jegliche Privilegien – anders als die palästinensische Regierung in Ramallah, die sulta, angefangen von Präsident Mahmud Abbas, aber auch anders als alle in Palästina aktiven internationalen NGOs – reist. Darauf angesprochen meint er, er sei ein Palästinenser wie alle anderen Palästinenser auch. Er betrachte sich weder als besser noch als bevorzugt wegen seiner Stellung in der Kirche. Ganz im Gegenteil: er müsse und wolle alles mit seinen Landsleuten teilen.

Zusammen mit anderen Christen sowie mit säkularen Menschen hat er 2009 die Bewegung »Kairos Palästina« mit der Veröffentlichung des Dokuments »A Moment of Truth« (Ein Moment der Wahrheit) gegründet. Kairos Palästina baut auf den Erfahrungen des theologischen Briefes zu Südafrika (1985), dem ersten Kairos-Dokument,

auf und dem letztendlich erfolgreichen Kampf dort gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und gegen das Apartheidregime. Ziel war die Herstellung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer Demokratie für alle.

https://www.sahistory.org.za/sites/default/files/archive-files3/boo19860000.026.009.354.pdf

Genau dies sind auch die Ziele von Kairos Palästina. Kairos Palästina ist nicht politisch, vielmehr baut es auf den biblischen Texten auf. Es spricht die Christen in aller Welt in der Sprache an, die sie kennen: in der Sprache des Evangeliums. Es vermittelt eine im Westen oft geflissentlich übersehene Tatsache, dass nämlich Palästina das Land ist, in dem Jesus die erste christliche Gemeinde gründete. Gleichzeitig kommuniziert es eine zentrale Botschaft, dass es in eben diesem Land um die gerechte Sache eines Volkes geht, das endlich in Frieden und Freiheit auf der Grundlage von Gerechtigkeit leben möchte.

Kairos Palästina ist aktiv in Palästina selbst und vor allem international. Delegationen der Gruppe nehmen weltweit an Konferenzen teil, vor allem an kirchlichen Konferenzen, z.B. zuletzt am Weltkirchenrat 2022 in Karlsruhe. Sie besuchen regelmäßig interessierte Gemeinden in Europa und in den USA. Und inzwischen gibt es Partnerorganisationen überall

 z.B. in Deutschland, in der Schweiz und in den USA.

https://www.kairospalestine.ps/index.php/about-kairos/global-kairos,

Hier sollte der Schwerpunkt gesetzt werden, meint der Erzbischof. Er kritisiert, dass Palästinenser oft im Selbstgespräch aktiv sind, anstatt sich nach außen zu wenden, um die notwendige Unterstützung zu bekommen. Auf meine kritische Nachfrage zu den eher negativen und vor allem pro-israelischen Positionen im Norden, antwortet er sehr diplomatisch: Sicher könnte die Unterstützung durch die Kirchen international besser sein, nicht nur in Worten, sondern vor allem in Taten. Aber er verbindet das gleich wieder mit Selbstkritik: „Wir müssen unsere Sache besser kommunizieren.“

Dann wechseln wir zum problematischen Thema der Auswanderung von Christen aus Palästina. Atallah Hanna sieht darin eine der größten Herausforderungen für die christlichen Gemeinden vor Ort, aber auch und vielleicht mindestens ebenso für die palästinensische Gesellschaft. Die Zahl der Christen in Palästina ist inzwischen dramatisch zurückgegangen.

Er beginnt mit dem Beispiel Gaza. Vor Beginn des Krieges und des Völkermordes in Gaza im Oktober 2023 hätten noch 1.000 Christen dort gelebt. In den ersten Wochen, als man noch aus Gaza herauskam, hätten mindestens 400 davon ihre Heimat verlassen. Damit existieren in Gaza gerade noch 600 Christen: in ihrem Leben bedroht wie alle Menschen dort.

Dramatisch sieht er auch die Situation in der Jerusalemer Altstadt. Viel zu viele Christen könnten die Lage dort nicht mehr ertragen: Angriffe durch extremistische Siedler, ökonomische Probleme und die ständige Herausforderung der Mobilität angesichts der vielen Straßensperren.

Grundsätzlich seien aber alle christlichen Gemeinden und alle historisch christlichen Orte, wie z.B. Bethlehem oder Ramallah, betroffen. Viele Christen würden sich für Auswanderung entscheiden, vor allem wegen der immer unerträglich werdenden Besatzung und infolge ökonomischer Benachteiligungen.  Er meint, dass es die Christen selbst seien, die an erster Stelle dagegen kämpfen müssten. Aber dazu brauchen sie die Unterstützung gerade auch von Muslimen. Der Verlust von Christen, so Abuna, sei ein Verlust für Palästina und für alle Palästinenser. Schließlich würden damit Muslime ihre Nachbarn, ihre Freunde, ihre Partner z.B. in Unternehmen verlieren.

Während Christen und Muslime unter ständigen Angriffen in der Jerusalemer Altstadt zu leiden haben, stehen derzeit die Armenier und die Aktionen israelischer extremistischer Siedler gegen sie – unterstützt von der rechtslastigen Stadtverwaltung von Jerusalem – im Mittelpunkt. Die Siedler wollen große Teile des armenischen Viertels konfiszieren. Mit einer großen Delegation stattete Abuna den bedrohten Armeniern einen Solidaritätsbesuch ab. Aber dies ist ein Thema für einen weiteren Brief aus Jerusalem.

Immer wieder betont er, dass die Lösung für die palästinensische Sache überfällig ist: nicht eine Lösung à la Netanjahu, der alles tut, um die Palästinenser los zu werden und der Landkarten zeigt, auf denen nur Israel zu sehen ist: „from the river to the sea.“ Jeder Mensch, egal wer er ist und wo er lebt, muss deshalb, so Abuna, die Palästinenser unterstützen. Denn es geht um Freiheit für Menschen, die schon viel zu lange jeglicher Rechte beraubt sind.

Woher kommt Abuna Atallah Hanna und wie gelangte er an die Spitze der palästinensischen griechisch-orthodoxen Gemeinde?Er stammt aus dem Dorf Rameh in Galiläa, gehört also zu den Palästinensern in Israel und hat einen israelischen Reisepass.Nach seiner Schulbildung in Rameh geht er nach Jerusalem, um dort Griechisch zu lernen. Sein Theologiestudium macht er im griechischen Saloniki. 1991 kehrt er nach Jerusalem zurück, wo er den Namen Theodosios erhält. Schon 1992 wird er als Priester ordiniert. Außerdem wird er zuständig für den palästinensischen Teil des Patriarchats und spricht in dessen Namen in der Öffentlichkeit. 2001 schließlich wird er zum offiziellen Sprecher des Griechisch-Orthodoxen Patriarchats in Jerusalem ernannt.  Wegen seines Engagements für die Rechte der Palästinenser, wegen seiner unerschrocken-klaren Kritik an der Besatzung, wird er sehr schnell zum Dorn im Auge Israels. Immer wieder wird er verhaftet und der Aufwiegelung angeklagt.Im Rahmen einer palästinensischen Delegation zum Weltkirchenrat in Genf redete er im Oktober 2000 vor dem UN Menschenrechtsrat: „Die palästinensischen Christen leiden, weil sie Palästinenser sind und in ihrer Heimat Palästina bleiben wollen.“ Er klagte Israel an wegen „ethnischer Säuberung gegen Araber, Muslime und Christen. Jeder meint, das sei ein Konflikt zwischen Arabern und Israelis. Keineswegs, es ist eine Besatzung Israels über die Palästinenser.“

Im Oktober 2001, mitten in der zweiten Intifada, nahm er an einem Marsch christlicher und muslimischer Führer von Jerusalem zum Militärkontrollpunkt vor Bethlehem teil als Protest gegen Israels Angriffe auf religiöse Stätten. Im selben Monat forderte er vom Menschenrechtsrat in Genf, dass dieser die Palästinenser von den israelischen Massakern retten und Druck ausüben müsse, damit die Blockade palästinensischer Städte und Dörfer aufgehoben wird. Im März 2002 wird er an der Allenby Brücke aus Jordanien kommend stundenlang festgehalten. Im August schließlich wird er in der Altstadt in Jerusalem verhaftet und zur Moskobiyeh gebracht. Man klagte ihn an wegen des Verdachts von Kontakten mit terroristischen Organisationen und dem illegalen Besuch von feindlichen Staaten (Syrien und Libanon). Das Verhör dauerte fünf Stunden. Die Antwort von Theodosius war sehr einfach: er muss Syrien und Libanon regelmäßig besuchen, um an religiösen Konferenzen und am inter-religiösen Dialog teilzunehmen. Bei diesen Reisen benutze er seinen vom Vatikan ausgestellten Pass. Israels konfiszierte daraufhin sowohl seinen israelischen als auch seinen Vatikan-Pass.

Theodosius protestierte, wo immer er konnte: in der Presse, in Konferenzen und bei öffentlichen Ansprachen. Er sprach im Klartext von einer Diffamierungs-Kampagne. Israel versuche, die palästinensische Sache als einen jüdisch-muslimischen Konflikt darzustellen. In Wirklichkeit aber wollten sie die kritischen christlichen Stimmen zum Schweigen bringen.

Seine Antwort darauf: „Wir haben immer darauf bestanden, dass die Kirche in Palästina allen Palästinensern dient, denn sie ist eine Kirche für die Menschen. Und es ist eine Kirche mit tiefen Wurzeln in diesem Land und in der dort lebenden Gesellschaft von arabisch-palästinensischen Christen und Muslimen.“ Abschließend wies er darauf hin, dass in Syrien über eine Million griechisch-orthodoxer Christen leben, im Libanon mehr als eine halbe Million. Kontakt und Betreuung dieser Glaubensbrüder sei notwendig.

Nach der Entlassung von Patriarch Irenaios, der des Verkaufs von Eigentum der Kirche an israelische Siedler angeklagt wurde, wird er vom neuen Patriarchen Theophilos III am 24. Dezember 2005 in der Grabeskirche in Jerusalem zum Erzbischof von Sebastia am griechisch-orthodoxen Patriarchat in Jerusalem ordiniert. Er ist erst der zweite Palästinenser in der Geschichte der griechisch-orthodoxen Kirche, der dieses Amt bekleidet.

„Meine Botschaft an die Welt, so schließt er unser Gespräch, ist eine Botschaft der Liebe, ein Appell für Frieden, für die Unterstützung meines palästinensischen Volkes. Es geht um die Verteidigung meines unterdrückten und gepeinigten Volkes. Es geht um das Ende des Völkermordes in Gaza. Es ist eine Botschaft gegen Rassismus, gegen Hass, gegen das Böse, für Menschlichkeit und Brüderlichkeit. Diese Botschaft zu vermitteln, immer und immer wieder, ist meine Pflicht als Christ und als Mensch.“