#13: Gaza – Stuttgart – Gaza

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Von Helga Baumgarten

Zum Fest der Internationalen Solidarität treffen sich Aktivisten aus der ganzen Stadt. Viele sind von weither angereist, um mit dabei zu sein. In diesem Jahr gilt die Solidarität den Palästinensern, allen voran den Palästinensern in Gaza.

„Der jahrzehntelange Kampf des palästinensischen Volkes gegen Besatzung und für Selbstbestimmung ist ein gemeinsamer Kampf aller Werktätigen und progressiven Kräfte weltweit.

Angesichts des anhaltenden Völkermords in diesem Land durch die zionistische Regierung in Israel müssen wir an der Seite Palästinas stehen und die Würde der Menschheit verteidigen. Denn dieser Kampf ist ein gerechter Kampf gegen Kolonialismus und Rassismus, gegen Vertreibung und Ausrottung, für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes…“

Deutsche mit türkischer und kurdischer Herkunft, Menschen, die für die Freiheit Kubas von der US-amerikanischen Unterdrückung kämpfen, Junge und nicht so Junge, die Solidarität mit Palästina üben und überall und immer wieder fordern, alle stehen an diesem Samstag zusammen im Clara Zetkin Waldheim etwas außerhalb von Stuttgart.

Atiya R. aus Gaza ist mit dabei. Er kam Anfang der Achtziger Jahre zum Studium nach Deutschland und machte seinen Abschluss als Bauingenieur in Stuttgart. Dort war 1982 als Reaktion auf das Massaker von Sabra und Shatila das Palästinakomitee gegründet worden.

Atiya schloss sich dem Komitee an, wo er auch auf seine spätere Frau Verena traf. Damals demonstrierten Menschen aus allen Parteien gegen dieses Massaker und für die Palästinenser. Und es waren große, eindrucksvolle Demonstrationen, an denen Tausende mitmarschierten: Grüne, Sozialdemokraten, Linke, Deutsche, Türken, Palästinenser.

Bald jedoch, so bedauernd Atiya in unserem Gespräch am Rande des Festes, begannen Richtungskämpfe, die bis heute nicht gelöst werden konnten. Entsprechend kleiner sind auch die Demonstrationen geworden: manchmal nur 100 oder 200 Teilnehmer, an den besten Tagen sind es 500. So viele erwartet er am 7.Oktober, dem Tag der Erinnerung an Ein Jahr Völkermord in Gaza.

Mit dabei sein werden das Palästinakomitee, die Gruppe „Palästina spricht“, viele junge und ältere nicht organisierte Palästinenser, Deutsche, Türken, Syrer, Kurden und Menschen aus Lateinamerika und Afrika.

Auch Annette Groth wird am 7. Oktober demonstrieren. Vorher fährt sie aber am 5. Oktober zum in Wien geplanten Palästina-Kongress, bei dem der palästinensische Arzt Ghassan Abu Sitta, der griechische Politiker Yanis Varoufakis, die israelische Journalistin Amira Hass und der israelische Historiker Ilan Pappe reden sollen.

Annette Groth bringt ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit. Sie wurde 2010 zunächst von Pax Christi auf das Solidaritätsschiff nach Gaza hingewiesen. Sie fand das eine wichtige Aktion und fuhr schließlich im Mai 2010 von Stuttgart aus mit der Mavi Marmara, die in Zypern ihre Fahrt begann, nach Gaza. Vielmehr versuchte sie, zusammen mit internationalen Aktivisten, darunter auch fünf Deutsche: Norman Paech (ehemaliger Abgeordneter der Linken), Inge Höger (MdB Die Linke), Mathias Jochheim (IPPNW), Nader al-Sakka (der einzige Deutsch-Palästinenser in der Gruppe) und eben Annette Groth (MdB Die Linke), auf diesem Schiff Hilfe nach Gaza zu bringen und die israelische Blockade Gazas zu durchbrechen. Der Versuch endete sehr blutig: die israelische Armee kaperte das Schiff und tötete dabei neun türkische Aktivisten. All dies ist für sie, als sei es erst gestern passiert:

„Es war wie ein Krieg. Sie hatten Gewehre, schossen mit Tränengas – auf unserer Seite wurden nur einige Holzstöcke zur Verteidigung benutzt… Wenn die israelische Armee diesen Angriff als Selbstverteidigung stilisiert, dann ist das schlicht lächerlich.“

Zum Abschluss des Festes wird der Film „Not Just Your Picture“ (deutsch) gezeigt.

Der Film erzählt die Geschichte der Geschwister Layla und Ramsis Kilani , die in Siegen aufgewachsen sind und in Deutschland leben. Nachdem die Ehe mit der deutschen Mutter auseinandergegangen war, ging ihr palästinensischer Vater Ibrahim zurück nach Gaza.

Im israelischen Krieg gegen Gaza im Jahr 2014 wurden der Vater Ibrahim, dessen fünf in Gaza geborene Kinder und dessen zweite Frau bei der Bombardierung eines Hochhauses getötet. Im Film geht es um den Einsatz der Geschwister Layla und Ramsis für Gerechtigkeit für die Familie Kilani.  https://www.filmpodium.ch/film/171007/not-just-your-picture 

Für Annette Groth geht es, wie schon oben erwähnt, am 5. Oktober weiter: Palästina-Kongress in Wien. Werden die Wiener da erfolgreich sein, wo Berlin gescheitert ist bzw. wo die Berliner Unterdrückung so massiv war, dass der Kongress schon in den Anfangsminuten gestoppt wurde?

Die Wiener haben daraus gelernt. Der Veranstaltungsort wurde lange regelrecht geheim gehalten. Aber als am 4. Oktober die Informationen rausgehen mussten, schaltete sich die Stadt Wien ein: Kein Palästina-Kongress. Sie hatte jedoch nicht mit den Wiener Solidaritätsaktivisten gerechnet. Die hatten Plan B in der Tasche: der Kongress fand statt mit allen angekündigten Teilnehmerinnen und Teilnehmern: von Amira Hass bis Azzam Tamimi, von Hebh Jamal bis Haneen Zoabi und vielen, vielen mehr. Nur Dr. Ghassan Abu Sitta musste sich entschuldigen. Seine Arbeit in Beirut, die Versorgung der zahllosen Verletzten durch die brutalen israelischen Bombardierungen ist wichtiger.

Aber zurück nach Stuttgart.

Nicht nur die beschämende Realität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Pro-Völkermord Regierung in Berlin, auch die eigene Vergangenheit verbindet Stuttgart in schrecklicher Weise mit Gaza: Gaza, dem größten Kinderfriedhof der Welt seit Beginn des Völkermordes vor einem Jahr.

In Stuttgart trauern die wenigen, die davon wissen, um die Kinder der sowjetischen Zwangsarbeiter, die in und um Stuttgart „im Lager geboren und gestorben“ sind. Darüber erfahren wir im erschütternden Buch von Karl-Horst Marquart, erschienen 2024 und angeregt von den Stolperstein Initiativen, den Bürgerprojekten gegen Gewalt und Vergessen und den Anstiftern. (Erschienen im Verlag Peter Grohmann Nachfolger. Stuttgart).

Ein Stolperstein wurde auch für Christian Elsässer verlegt. Er ist einer der deutschen Arbeiterinnen und Arbeiter, die den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und ihren Kindern geholfen haben. Was ist die Geschichte von Christian Elsässer? 1943, kurz nach dem Sturz von Mussolini, wurden italienische „Kriegsgefangene nach Deutschland transportiert und dort in der Kriegsindustrie eingesetzt. Einige Hundert waren auch bei der Firma Bosch beschäftigt.

Anfang 1944, die Luftangriffe auf Stuttgart hatten schon einen ersten Höhepunkt erreicht, drängten sich wie üblich zahlreiche deutsche Arbeiter und italienische Kriegsgefangene an den Schalter, an dem der Kollege Elsässer das Essen und Trinken ausschenkte. Ein deutscher Arbeiter stürmte nach vorn und beschwerte sich, dass die italienischen Kriegsgefangenen genauso schnell abgefertigt würden wie die „Deutschen“. Das sei doch unerhört und der Kollege Elsässer solle doch dafür sorgen, dass erst die Deutschen bedient werden und dann erst die Verräter.“

Elsässer reagierte mit schwäbischer Direktheit:

„Mir sind kriegsgefangene Italiener am Arsch lieber als ihr Nazis im Gesicht.“

Innerhalb weniger Tage wurde Elsässer verhaftet. Im Sommer 1944 wurde er zum Tod durch Schafott verurteilt.

(Tilman Fichter, Eugen Eberle. 1974. Kampf um Bosch. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin. S.158).

Die Palästina-Solidarität in Stuttgart geht weiter. Am Montag, 7. Oktober, wird demonstriert „gegen den inzwischen 12 Monate andauernden israelischen Genozid in Gaza und gegen den israelischen Krieg im Libanon. Wir demonstrieren und protestieren dabei auch gegen die inzwischen 76 Jahre andauernde Nakba (ethnische Säuberung und Vertreibung der Palästinenser:innen), Siedlerkolonialismus und Apartheid, in deren Zusammenhang die Ereignisse des 7. Oktobers gesehen werden müssen und die einen neuen erschreckenden Höhepunkt im genozidalen Krieg gegen Gaza erreicht haben, wobei die israelische Besatzungsmacht inzwischen auch mit extremer Brutalität in der Westbank vorgeht.    

Den Libanonkrieg führt der Staat Israel ebenfalls mit massiven tödlichen Angriffen gegen die Zivilbevölkerung. Dies ist auch Ausdruck der ultrarechten und rassistischen Kräfte, welche die Politik des Staates Israel bestimmen. Die Unterstützung vor allem durch die USA und die Bundesrepublik verstärkt diese rechtsextremen Kräfte und gefährdet die gesamte Region“.

Leider mischen sich einige Wehrmutstropfen in die eindrucksvolle Solidarität, die gerade heute mehr denn je gefordert ist. Immer wieder können sich verschiedene Organisationen nicht zusammenraufen bzw. boykottieren sich regelrecht gegenseitig. In Stuttgart gab es deshalb gleich zwei Demonstrationen: eine am Sonntag, 6. Oktober, angeführt von Palästina spricht: sehr eindrucksvoll mit großartigen Parolen und Forderungen.

Die nächste am Montag, angeführt vom Palästinakomitee, mit der bewegenden Rede von Fanny-Michaela Reisin von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost. Sie war extra aus Berlin angereist.

Kooperation zwischen allen Richtungen aus der Solidaritätsbewegung ist das Gebot der Stunde. Der Druck von oben wird, gerade auch in Deutschland, aber überall in Europa und in den USA, immer massiver, ja nimmt gerade perverse Formen an. Die Polizei in Nordrhein-Westfalen entblödet sich nicht, eine Demonstration zu verbieten, an der Greta Thunberg teilnehmen soll. Begründung: Sie sei „gewaltbereit“!!!

Im Deutschland des Jahres 2024 sind Palästina-Solidarität und Greta Thunbergoffensichtlich gefährlicher für die Demokratie (bzw. das, was in Deutschland davon noch übriggeblieben ist!) als die AfD und ihre rassistisch-faschistoiden Schergen.

https://www1.wdr.de/nachrichten/polizei-dortmund-greta-gewaltbereit-100.html