#15: „Die Welt erwartet von uns, dass wir Opfer sind, die sich gut benehmen“
Wer war Yahya Sinwar?
Von Helga Baumgarten
„Sinwar war ein brutaler Mörder und Terrorist, der Israel und seine Menschen vernichten wollte. Als Drahtzieher des Terrors am 7. Oktober brachte er tausenden Menschen den Tod und unermessliches Leid über eine ganze Region. Die Hamas muss jetzt sofort alle Geiseln freilassen und die Waffen niederlegen, das Leid der Menschen in Gaza muss endlich aufhören“, so die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 17.Oktober 2024. (https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2680608 )
Politische Führer weltweit überschlagen sich in ihrer Genugtuung über den Tod des „barbarischen Terroristen Yahya Sinwar, verantwortlich für die schlimmsten Gräueltaten“.
Wie üblich vergessen sie geflissentlich, dass es die israelische Armee ist, die den Gaza-Streifen zerstört und Zehntausende von Menschen getötet hat.
Wer war Sinwar?
Er ist am 29. Oktober 1962 im Flüchtlingslager Khan Yunis geboren. Nächste Woche wäre er also 62 Jahre alt geworden. Seine Eltern wurden 1948 aus ihrer Heimat Ashkelon (Asqalan auf Arabisch) vertrieben und fanden, wie weitere Zehntausende von Flüchtlingen, Zuflucht im Gaza-Streifen. Sinwar ging in Khan Yunis zur Schule und machte im Anschluss an das Abitur (tawjihi) einen Bachelor in Arabischer Sprache an der Islamischen Universität in der Stadt Gaza. An der Islamischen Universität trat er Anfang der achtziger Jahre in die Muslimbrüderschaft (MB) ein. Schon 1982 wurde er kurz (genau für vier Monate, so der offizielle Lebenslauf bei Hamas) verhaftet, allerdings ohne Anklage. 1985 war er einer der Gründer von Majd, der vormilitärischen Sicherheitsabteilung der MB. Als die israelische Armee 1988, nach der Gründung von Hamas im Dezember 1987, Waffen bei al-Majd fand, wurde er wieder kurz verhaftet, bis er schließlich 1989, nach einer erneuten Verhaftung, zu viermal lebenslänglich verurteilt, laut israelischen Angaben wegen des Mordes an Palästinensern, die von den Muslimbrüdern als Kollaborateure identifiziert worden waren. (Quelle: Encyclopedia Britannica, 17.10.2024) (https://www.britannica.com/biography/Yahya-Sunwar )
Jon Elmer von der Electronic Intifada liefert (Electronic Intifada live am 23.10.2024) andere Informationen. Danach wurde Sinwar 1988 bei Jenin verhaftet und verurteilt wegen seiner Organisierung des bewaffneten Kampfes gegen die Besatzung. Diese Informationen finden sich sowohl im offiziellen Lebenslauf von Sinwar bei Hamas https://hamasinfo.info/2024/08/07/3245/
als auch bei BBC (arabische Ausgabe: https://www.bbc.com/arabic/articles/c04032r14pzo.amp ).
Aus seiner Zeit in israelischer Haft stammt die erste wichtige Quelle, die uns erlaubt zu verstehen, wer Sinwar war und wie seine politischen Ziele aussahen. Es ist der autobiographische Roman „Dornen und Nelken“, den er in den Jahren seiner Haft verfasste und dessen Text stückweise aus dem Gefängnis geschmuggelt wurde.
Tarif Khalidi, palästinensischer Emeritus Professor für Arabische und Islamische Studien an der American University of Beirut (er lehrte auch parallel an der Universität Cambridge, wo er 1996 zum Sir Thomas Adams’s Professor of Arabic and zum fellow des King’s College sowie schließlich zum Direktor des Center of Middle Eastern Studies dort ernannt worden war), schrieb, zusammen mit Mayssoun Sukarieh vom Forschungskomitee des Institute of Palestine Studies, eine ausführliche Analyse dieses Romans.
(Mondoweiss, 4. Februar 2024) (link: https://mondoweiss.net/2024/02/leader-of-the-underground-tells-all/ )
Zentral für Sinwar war der Krieg 1967. Damals grub sein Vater ein tiefes Loch hinter ihrem Haus im Flüchtlingslager, wo sich die gesamte Familie versteckte, um zu überleben.
Israelische Besatzung bedeutet für ihn ausschließlich Widerstand gegen Besatzung. Dieser Widerstand durchlief Perioden des Auf und Ab. Darüber debattieren die Akteure des Romans ausführlich.
Dabei werden drei politische Linien sowie die Debatten unter diesen im Detail vorgestellt
- Fatah
- Linke marxistische Richtung
- Islamistische Richtung
Dass der Erzähler zur pro-islamistischen Richtung gehört, wird deutlich. Allerdings stellt er die anderen Richtungen absolut objektiv dar.
Von 1987 bis heute durchlief die Hamas eine langsame Entwicklung hin zum Selbstverständnis als Teil des globalen anti-kolonialistischen Kampfes. Alle antisemitischen Klischees, anfangs übernommen vom westlichen antisemitischen Diskurs, wurden fallengelassen.
Erstaunlich, so Khalidi, dass Sinwar in seinem Roman aus einer frühen Periode von Hamas keinerlei antisemitische Einstellungen zeigt. Seine Hauptkritik, sein tiefsitzender Zorn ist gegen palästinensische Kollaborateure mit der Besatzung gerichtet. Dagegen ist Sinwar durchgängig tolerant gegenüber den Palästinensern aus Gaza, die in Israel arbeiten und von dort neue Ideen mitbringen. Das gilt auch für die Besuche von Israelis, die zum Beispiel zu Hochzeiten ihrer Angestellten nach Gaza kommen. Dabei ist absolut nichts von Antisemitismus zu lesen oder zu spüren.
Entscheidend für Sinwar ist der Widerstand gegen die Besatzung. Dabei geht es ihm vor allem um die Schaffung einer Infrastruktur des Widerstandes. Sinwar, so Khalidi, legt einen „geradezu obsessiven und gleichzeitig kreativen Schwerpunkt auf das Projekt des Baus einer Infrastruktur des Widerstandes, sowohl physisch als auch institutionell“.
Zum Bau dieser Infrastruktur gehören
o der Aufbau von Universitäten, also bei Sinwar z.B. die Islamische Universität in Gaza,
o der Bau von neuen Schulen überall im Gaza-Streifen
o die Schaffung eines Netz des Widerstandes zwischen Gaza und der Westbank
o die Gewinnung von Wissenschaftlern für die zentrale Aufgabe, im Lande selbst Waffen für den Widerstand herzustellen.
Eben darin, so Khalidi, liege sein „Erfolg als Anführer des Guerilla-Kampfes aus Gaza“.
Die zweite wichtige Quelle für alle, die nicht an Hetze, sondern an Informationen über Sinwar interessiert sind, ist das wohl letzte gefilmte Interview mit Sinwar in englischer Sprache, das Hind Hassan, eine Reporterin von Vice-News, im Mai 2021 in Gaza führte.
(https://www.instagram.com/hanood7sn/reel/C8HKu26i6XQ/ )
Sinwar erklärte ihr, dass der Angriff der Hamas in Richtung Jerusalem eine klare Botschaft an Israel gewesen sei. Schon Stunden später sei die Hamas bereit gewesen zu einem Waffenstillstand. Alle Vermittler hätten diese Information erhalten: Ägypten, Qatar und die UN. Die Botschaft sei klar gewesen: „Lasst die Aqsa Moschee in Ruhe, hört auf mit Gewalt und Häuserenteignung und Zerstörung in Jerusalem und speziell auch in Scheich Jarrah.
Hört auf, internationales Recht zu verletzen durch Eure Siedlungen, durch den Diebstahl von Land, durch die Blockade gegen Gaza, durch die Politik von Apartheid und rassistischer Diskrimination gegen die Palästinenser…“
Auf die Frage, ob der Krieg nun zu Ende sei, antwortet Sinwar:
„Der Krieg zwischen uns und der Besatzungsmacht… ist offen, ohne klares Ende…
Wir wollen keinen Krieg und keine Kämpfe, denn dies kostet Leben und unser Volk hat Frieden verdient. Lange Zeit haben wir friedlichen Widerstand geübt. Wir haben auf die internationale Gemeinschaft gesetzt … und gehofft, dass sie die Verbrechen und Massaker der Besatzung an unserem Volk stoppen würden. Leider hat die Welt tatenlos zugesehen, wie die Kriegsmaschinerie der Besatzung unsere jungen Leute getötet hat.“
Auf die Frage von Hassan, ob nicht auch die Hamas Kriegsverbrechen begangen habe mit dem Schießen von Raketen in israelisches Gebiet antwortet Sinwar:
„Israel hat die modernsten Waffen und bombardiert und tötet unsere Kinder und Frauen mit Absicht…. Sie können das nicht mit dem Widerstand derer vergleichen, die sich verteidigen mit vergleichsweise primitive Waffen. Wenn wir präzise Waffen hätten, würden wir nur militärische Ziele angreifen…
Was sollen wir also in Ihrer Meinung tun? Die weiße Flagge hissen?
Das wird nicht passieren. Erwartet die Welt von uns, dass wir Opfer sind, die sich gut benehmen, während sie getötet werden? Dass wir abgeschlachtet werden, ohne jeglichen Muckser. Das ist unmöglich. Wir haben entschieden, unser Volk mit den Waffen, die wir haben, zu verteidigen.“
Die Reaktion auf den Tod Sinwars in der palästinensischen und arabischen Gesellschaft unterscheidet sich diametral von der anfangs zitierten westlichen Reaktion. Für die Mehrzahl der Palästinenser, Araber und generell der Menschen im globalen Süden wurde Sinwar durch seinen Widerstand, durch seine aktive Teilnahme am Kampf der Palästinenser gegen die israelische Armee in Gaza bei der Durchführung ihres Völkermordes und ihrer brutalen Zerstörungskampagne zu einem historischen Helden, zur Ikone des Widerstandes. Vergleichbar war er nur noch mit Scheich Izzedin Qassam, dem ersten Kämpfer gegen den britischen Kolonialismus und den jüdischen Siedlerkolonialismus, der Ende 1935 bei Jenin erschossen wurde, und letztlich mit Che Guevara, der – vielen unbekannt – Gaza in den fünfziger Jahren besucht hatte. Wie al-Jazeera auf dem arabischen Kanal nicht müde wurde zu betonen und durch Video-Aufnahmen zu zeigen, starb Sinwar nicht, wie die israelische Propaganda immer verbreitete, versteckt hinter den Geiseln in den Tunneln unter Gaza. Er starb im direkten Kampf gegen die Armee. Er beschoss sie mit Granaten und gab bis zu seinem Tod den Widerstand nicht auf. Die Videos, die von israelischen Soldaten über Social Media unzensiert ins Netz gelangten, zeigen ihn, wie er mit dem linken Arm – sein rechter Arm war schon zerfetzt – einen Stock gegen die Drohne warf, die versuchte Bilder aufzunehmen im Gebäude, in das er nach den ersten Verletzungen geflüchtet war, um von dort weiter zu kämpfen mit den verbliebenen Granaten.
Danach kam ein neuer Angriff der Armee gegen das gesamte Gebäude, das über ihm zusammenstürzte und ihn tötete. Auf Electronic Intifada können diese Szenen im Bericht von Jon Elmer vom 23.Oktober 2024 nachverfolgt werden. Inzwischen kursieren Bilder überall im Netz, in denen das Schleudern von Stöcken gegen Drohnen der israelischen Armee als Zeichen des ungebrochenen Widerstandes gegen den Völkermord in Gaza kodifiziert wird.
Schließlich wurde ein neues arabisches Sprichwort kreiert: Sinwars Stock.
Sinwars Stock repräsentiert das Durchhalten in den schlimmsten Situationen, den Willen, nicht aufzugeben, auch gegenüber unüberwindlichen Herausforderungen. Es bedeutet, dass man alles versucht hat und dass man am Schluss nur noch diesen Stock hat um Widerstand zu leisten.
„Ich habe Sinwars Stock geworfen“ heißt, dass man alles gegeben hat, um sein Ziel zu erreichen.
Israels völkermörderische Armee hat aus Sinwar eine neue Ikone für den palästinensischen Widerstand, für den palästinensischen Kampf für Freiheit, Gerechtigkeit und ein Ende der Unterdrückung geschaffen.