#6: Die Khalidi Bücherei in der Altstadt von Jerusalem

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Lasst Palästina in Frieden
Das reiche Erbe Jerusalems, von der Besatzung bedroht:
Khalidi Bücherei in der Altstadt von Jerusalem

Ein Bericht von Helga Baumgarten

1899 schrieb Yusuf Diya-aldeen al-Khalidi einen prophetisch anmutenden Brief an den französischen Oberrabbiner Zadok Kahn:

„… Es ist notwendig, … dass die zionistische Bewegung, im geographischen Sinn, stoppt… die Welt ist groß genug… es gibt immer noch unbewohnte Länder… Das wäre vielleicht die beste, die rationalste Lösung für die jüdische Frage. Aber, im Namen Gottes, lasst Palästina in Frieden.“

Zadok Kahn gab den Brief direkt weiter an seinen Freund Theodor Herzl. Herzl schrieb eine Antwort an Khalidi:

„…. Sie schreiben Zadok Kahn, die Juden sollten besser woanders hingehen. Das kann durchaus passieren, wenn wir sehen, dass die Türkei die enormen Vorteile, die ihnen unsere Bewegung bringt, nicht verstehen und würdigen will… Damit wird die Türkei aber die letzte Chance verlieren, ihre Finanzen zu regulieren und sich ökonomisch zu erholen. Ich schreibe Ihnen dies als wahrer Freund der Türken. Vergessen Sie das nicht!…!“

(Documents on Palestine I, PASSIA, S.14-15)

Der viel zu früh verstorbene Historiker Alexander Schölch (zuletzt Universität Erlangen) machte bei den Forschungen zu seinem für Palästina immens wichtigen Buch „Palästina im Umbruch 1856-1882“ (1986 – nach seinem Tod erschienen) „… einen historischen „Zufalls“-Fund: in der Khalidi-Bücherei entdeckte er bei der Suche nach relevanten Informationen in den Handschriften die Autobiographie von Yusuf al-Khalidi. Auf der Basis dieser außergewöhnlichen Biographie war er in der Lage, „den Aufstieg Jerusalems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen“. Denn für ihn verkörperte Khalidi eben diesen Aufstieg zu einem politischen und administrativen Zentrum und durch ihn konnte er einen besseren Einblick in die soziopolitische Transformation in Palästina gewinnen.

Die Khalidi Familie gehörte zur Oberschicht Jerusalems, zu „einer der beiden alteingesessenen Notabelnfamilien, … die sich im 19. Jahrhundert gegenseitig Rang und Einfluss streitig machten,“ den Khalidis und den Husseinis. Die Husseinis waren die größere und reichere Familie, die Khalidis stützten sich auf ihren institutionell verankerten Einfluss durch ihre über Jahrhunderte bekleideten zentralen Positionen im Shari’a Gericht.

Die Khalidis haben große Besitztümer in Jerusalem, vor allem in der Altstadt, aber auch außerhalb, zum Beispiel das Land, auf dem sich die St. George’s Schule (al-Mutran) befindet. 1828 ist der Besitz in der Altstadt in einen Familien-Waqf übergegangen. Nach islamischem Recht kann nichts davon verkauft werden, es muss für die Familie erhalten bleiben. Khadijeh al-Khalidi, eine der weitblickenden Frauen der Familie, beschloss 1870, dass eine Bibliothek etabliert werden sollte. 1900, nach dem Tod der Mutter, gründete ihr Sohn, Hajj Raghib al-Khalidi, die Bibliothek.

In der Bibliothek finden sich zuerst und vor allem Dokumente der Khalidi-Familie, die bis ins 11. Jahrhundert zurückgehen. Außerdem beherbergt sie einen regelrechten Schatz von Büchern, nicht zuletzt die Buchsammlung von Ruhi al-Khalidi, der lange Jahre in Frankreich lebte. 2021 wurden die gesammelten Werke von Ruhi al-Khalidi endlich publiziert

„Muhammad Ruhi al-Khalidi (1864-1913): Books, Articles, and Selected Manuscripts.”

Er ist Autor der wohl ersten Studie in Vergleichender Literaturwissenschaft auf Arabisch, vor allem aber hat er als erster palästinensischer Autor einen historischen Überblick über den Zionismus verfasst. Inzwischen liegt auch ein Katalog vor, den mein Kollege an der Universität Birzeit, Dr.Nazmi Ju’beh, verfasst und publiziert hat (2001). Die Bibliothek und die meisten Häuser aus dem Khalidi-Waqf finden wir in der „Bab al-Silsila“ Straße. Sie führt vom Jaffa-Tor (bab al-khalil) zum haram al-sharif, vorbei an einer Abzweigung, die zur Klagemauer führt. Von der Bibliothek und von allen Häusern auf der rechten Seite blickt man direkt auf die Klagemauer, al-buraq, wie sie auf Arabisch benannt und als religiöses Heiligtum verehrt wird.

Eben diese Nähe wurde für die Bibliothek und den Besitz der Khalidi-Familie ein zentrales Problem. Nach der Besetzung der Altstadt durch Israel im Junikrieg 1967 zerstörte die Armee das gesamte Maghrebi-Viertel, das direkt vor dem buraq lag, und vertrieb alle Bewohner, um freien Zugang und einen riesigen Gebets-Platz vor der Klagemauer zu schaffen. Die Armee besetzte das Dach der Bibliothek. Ende der 1970er Jahre wurde dort eine extremistische Jeschiva errichtet. (1)

 Die Jeschiva-Bewohner terrorisierten die Bibliothek mit dem klaren Ziel, sie zu konfiszieren und der Yeshiva einzuverleiben. Ein langer Rechtsstreit folgte, den die Familie letztendlich für sich entscheiden konnte.

Schräg gegenüber ist der Bibliotheks-Annex, in dem sich die meisten Manuskripte befinden. Die Bücher blieben derweil in der traditionellen Bibliothek, also an ihrem alten Ort.

Im Juni 2024 besetzten extremistische Siedler ein Haus der Khalidi Familie direkt neben der Bibliothek. Sie schlugen die Bewohner brutal zusammen. Auf der Grundlage von gefälschten Papieren versuchten sie, ihre Besitzansprüche gerichtlich durchzusetzen. Zum Glück hatten Angehörige der jüngeren Generation der Khalidi-Familie das gesamte Eigentum auch in Israel offiziell registrieren lassen. Nur auf dieser Grundlage mussten die Siedler das besetzte Haus räumen.

Ich besuchte die Bibliothek am 14. August. Einen Tag zuvor, wie mir der Bibliothekar Dr. Khader Salameh berichtete, hatten Siedler den Annex attackiert, alles unter Polizeischutz. Kurz bevor ich kam, durfte Dr. Salameh endlich wieder in den Annex und baute als erstes ein neues Schloss ein. Jetzt hofft er fürs Erste auf Ruhe.

Die „Khalidiyyeh“ steht symptomatisch für den israelischen Versuch, die gesamte Altstadt in ihren direkten Besitz zu bringen und die Palästinenser sukzessive zu vertreiben.

In ihrem Bericht „Der große Land-Raub“ berichten die israelischen NGOs Ir Amin und Bimkom von den neuesten Methoden, mit denen Israel und insbesondere die Stadt Jerusalem großflächig den palästinensischen Besitzer in Jerusalem Land wegnehmen. Dies geschieht durch einen weltweit üblichen Prozess der Land-Registrierung, „settlement of land title“, also die abschließende Klärung und Registrierung von Landbesitz. Während dieser Prozess international völlig normal ist, ist er im Falle des besetzten Ost-Jerusalem eine klare Verletzung geltenden internationalen Rechts. Israel beruft sich dabei auf die schlichte „Tatsache“, dass, aus israelischer Sicht, Jerusalem Teil des Staates Israel sei, dessen unteilbare Hauptstadt. Dies wird jedoch im internationalen Recht nicht anerkannt, auch nicht in Österreich oder Deutschland. Ir Amin und Bimkom zeigen in ihrem Bericht, wie Israel „Palästinenser enteignet, um damit mehr Land für jüdische Siedlungen zu bekommen und Israels Souveränität über Ost-Jerusalem zu zementieren“.

Der Prozess ist in ganz Jerusalem im Gange: von „Har Homa“ im Süden, direkt oberhalb von Beit Sahour, über den Ölberg bis nach Beithanina im Norden.

Ein letztes Beispiel ist das armenische Viertel. Siedlerorganisationen wollen Teile davon „übernehmen“. Zum Glück konnten die Armenier rechtzeitig legalen Widerspruch einlegen.

Dieser gesamte Prozess der Besitzregistrierung ist in keiner Weise transparent. Zum Teil wissen die palästinensischen Besitzer nicht, was Stadt und Staat dabei sind zu tun, hinter ihrem Rücken. Und sie können deshalb auch nicht rechtzeitig reagieren, was im Falle des armenischen Viertels wenigstens noch möglich war.

Das Problem, wie Ir Amin und Bimkom in ihrem Bericht aufzeigen, ist die schlichte Tatsache, dass solche Prozesse der Landregistrierung, sei es als Staatseigentum, als Eigentum von Siedlerorganisationen oder als Privateigentum, endgültig und selbst nach Beendigung der Besatzung nicht mehr umkehrbar sind.

Abschließend möchte ich zurückgehen zur Erfahrung der Khalidi-Bibliothek mit Stadt und Siedlern. Was immer die palästinensischen Bewohner (also aus israelischer Sicht die „nicht-jüdischen Bewohner) der Altstadt versuchen: gegen sie steht die geballte Macht der Besatzung. Und wenn legale Mittel nicht mehr nützen, kommt einfach eine militärische Anordnung und der israelische Siedlerkolonialismus hat wieder einmal gewonnen.

(1) Jeshivas sind traditionelle jüdische Erziehungsinstitutionen. Dort wird die rabbinische Literatur, also v.a. Talmud und halacha (jüdisches Recht) studiert, außerdem Torah und jüdische Philosophie.

Die Fotos – mit Ausnahme jenes des al-buraq/Klagemauer – stammen von Darwish al Kurd, dem Sohn von Helga Baumgarten und Mustafa al Kurd.