#7: Willkommen in der Hölle

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

B’tselem berichtet über Israels systematische Politik des Missbrauchs und der Folter gegen palästinensische Gefangene

Von Helga Baumgarten

B’tselem begann die Arbeit an diesem Grauen erregenden Bericht „Willkommen in der Hölle“ im November 2023. In den wenigen Tagen des Waffenstillstandes wurden israelische Geiseln aus Gaza freigelassen, im Austausch gegen palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen. Die Welt hat sich seitdem ausschließlich auf die freigelassenen israelischen Frauen, Mädchen und Kinder konzentriert. Die palästinensischen Gefangenen wurden in guter kolonialistischer Manier vergessen. Die B’tselem Feldforscher in Gaza und Hebron sprachen mit den freigelassenen Frauen und Mädchen und waren schockiert über die Berichte, die sie hören mussten über die Misshandlungen, denen diese ausgesetzt waren.

Seitdem bekommt die Menschenrechtsorganisation ununterbrochen neue Berichte über Misshandlungen, immer dieselben Berichte über genau dieselben Foltermethoden in der Haft, egal in welchem Gefängnis und in welcher Gegend Palästinas. Sehr schnell war ein klares Muster erkennbar. Im März entschied sich B’tselem zu dem Projekt, das mit einem Riesenarbeitsaufwand und der Konzentration all ihrer Möglichkeiten innerhalb von 5 Monaten abgeschlossen war mit der Publikation des Berichtes Anfang August 2024.

Shai Parnes von B’tselem nahm sich die Zeit, um mir diese Arbeit im Detail zu erklären, als ich am Dienstag vergangene Woche (20. August) das Büro der Menschenrechtsorganisation in Talpiot in West-Jerusalem besuchte.

Auf der Basis von 55 Berichten von freigelassenen Palästinensern (30 aus der Westbank, 21 aus Gaza und 5 Palästinenser aus Israel, also israelische Bürger) zeichnete sich eine „systematische institutionalisierte Politik des kontinuierlichen Missbrauchs und der Folter aller palästinensischer Gefangener“ ab, über die „Willkommen in der Hölle“ detailliert berichtet. Selbst wenn man nur liest, was die Menschen durchmachen mussten, ist dies kaum erträglich.

Sami Khalili aus Nablus, seit 2003 in Haft im Ketziot Gefängnis im Negev, berichtet, wie einigermaßen „akzeptable“ Haftbedingungen ab Mitte Oktober unmenschlich gemacht wurden: “Wir hatten nur noch ein Ziel: Überleben.“ Und er erläutert: „Wir hörten Schreie (aus den Nachbarzellen)…es klang, als ob sie abgeschlachtet würden. So etwas hatten wir noch nie erlebt…. Nach drei Stunden … kamen die Wärter zu uns… sie holten uns aus der Zelle und schlugen uns… sie sperrten 11 von uns in eine Zelle für 4… aus den Fenstern hatten sie das Fensterglas entfernt… es wurde extrem kalt. … Es gab dreimal täglich einen „roll call“: wir mussten knien, Kopf unten, Hände auf den Kopf… wer den Kopf hob, wurde geschlagen…“ (S. 23-24). Die Zellen waren überfüllt und kein Sonnenlicht kam in den Raum. Die Häftlinge hatten keinen Hofgang, sie mussten einfach nur sitzen, permanent…

Thaer Halahleh aus dem Hebron Distrikt berichtet, dass er während der Haft (in Ofer und in Nafha) 191 Tage lang keine Sonne hatte sehen können. (S.29).

Mohammad Srour aus Ni’ilin bei Ramallah erzählt, dass er zwar einmal  – eine absolute Ausnahme – einem Richter vorgeführt worden sei. Zuvor hätten ihn aber die Wächter brutal zusammengeschlagen und gewarnt, absolut darüber zu schweigen. Als ihn sein Rechtsanwalt sah (alles lief nur über Video), wie sein Gesicht geschwollen und verletzt war, forderte dieser ihn auf, den Richter zu informieren. Der empfahl ihm lediglich, die Untersuchung durch einen Arzt zu beantragen. Danach wurde er von den Wächtern ein zweites Mal zusammengeschlagen, weil er vor Gericht frei geredet hatte (S.34). Die Gefangenen waren kontinuierlich und vollständig isoliert: weder das Rote Kreuz noch Rechtsanwälte durften kommen. Von Familienbesuch war nie die Rede.

Fouad Hasan, 45, aus dem Nablus-Distrikt erzählt, wie sie mit dem Bus zum Megiddo Gefängnis gebracht wurden. Als sie ausstiegen, wurden sie von den Wärtern begrüßt: „Willkommen in der Hölle“. (S.46).

Durchgängig wurde sexuelle Gewalt ausgeübt: die Genitalien der Gefangenen wurden mit Schlägen traktiert, mit Holz-und Metallteilen. Die Männer mussten sich nackt ausziehen und wurden, nachdem sie misshandelt worden waren, so anderen Gefangenen vorgeführt, um sie noch weiter zu demütigen. Ein Gefangener berichtet, wie einige Wärter ihn am 29. Oktober anal vergewaltigten durch brutale Einführung einer Karotte. (S.58-59).

Immer wieder mussten Amputationen durchgeführt werden wegen Folter und danach fehlender medizinischer Behandlung. Sufian Abu Saleh aus Khan Yunis berichtet, wie ihm infolge der Haft in Sde Teiman sein Bein amputiert wurde. Im April wurde er zurück nach Gaza abgeschoben und musste ohne jede Hilfe alleine durch den Übergang Kerem Shalom humpeln. Und medizinische Weiterbehandlung in Gaza gibt es natürlich nicht.

In einzelnen Kapiteln analysiert B’tselem, wie Israel in seinen Gefängnissen mit den Inhaftierten „umgeht“. Inzwischen muss man von einem Netz von Lagern (mehr als ein Dutzend!) ausgehen, deren alleiniges Ziel es ist, die Palästinenser zu missbrauchen. Menschen werden dorthin gebracht in der klaren Absicht, sie erbarmungslos massivem Schmerz und Leiden auszusetzen. Die Lager sind, um eine klare Sprache zu gebrauchen, Folter-Lager. Der Missbrauch reicht über willkürliche Gewalt, sexuelle Übergriffe, Demütigungen und Erniedrigungen, Zwang zum Hungern (die Gefangenen verlieren in wenigen Monaten bis zu 20 kg oder mehr, S.77), unhygienische Bedingungen, Schlafentzug, Verbot von religiösen Handlungen, Konfiszierung von Eigentum, privat oder kollektiv, bis hin zur Verweigerung adäquater medizinischer Behandlung.

Internationales Recht verbietet dies unmissverständlich, wie B’tselem im Detail und unter Bezug auf die einzelnen Rechtsquellen aufzeigt. B’tselem weist auf die zentrale Rolle von Sicherheitsminister Ben Gvir hin, der für die Politik in israelischen Gefängnissen verantwortlich ist. Unterstützt wird er dabei vom gesamten Kabinett und von Ministerpräsident Netanyahu. Spätestens seit dem Oktober 2023 wird diese Dehumanisierung der Palästinenser von Politikern propagiert und in der breiten Öffentlichkeit nicht nur akzeptiert, sondern ausdrücklich positiv aufgenommen.

Eine besondere Rolle spielt Keter, die „IRF“, (initial reaction force), von Palästinensern schlicht „death squad“, also Todeskommandos genannt. IRF ist aktiv seit 2010, vor allem im Gefängnis Ketziot im Negev und in Ofer bei Beitunia, gleich südwestlich von Ramallah.

B’tselem berichtet von inzwischen mindestens 60 Toten in israelischer „Haft“, 48 davon aus Gaza, 12 aus der Westbank bzw. aus Israel. Der Bericht führt drei Todesfälle, besser Beispiele von Mord, in den Gefängnissen an:

Thaer Abu Asab, 38 Jahre alt, im Gefängnis Ketziot im Negev. (S.91)

Arafat Hamdan, 25, in Ofer. Er hatte Diabetes und wurde nicht behandelt. (S.94).

Mohammad as-Sabbar, 20, aus Dhahiriyya südlich von Hebron. Er litt unter einer Magenkrankheit und musste mit Diät leben, die ihm verweigert wurde. (S.99).

Der letzte Tote ist der 19jährige Zahir Raddad. Er wurde am 23. Juli in Tulkarm verhaftet und als menschlicher Schutzschild auf einem Armeejeep gefesselt. Er starb am 25. August infolge der Verletzungen, die er so erlitt. Vom 23. Juli an wurde er im Krankenhaus in Israel gefangen gehalten und sein Leichnam wurde der Familie bis dato nicht zur Beerdigung überstellt. (Information von ad-Damir, Menschenrechtsorganisation in Ramallah). Niemand wurde für diese Morde, denn anders kann man sie nicht bezeichnen, zur Verantwortung gezogen.

Oft vergessen wird die schlichte Tatsache, auf die der Bericht ausdrücklich hinweist:

Seit 1948, also seit der Nakba, seit der Gründung des Staates Israel, werden die Palästinenser aus politischen Gründen in Haft genommen, immer wieder zuerst und vor allem in „Administrativhaft“, also ohne Anklage und ohne reguläres Gerichtsverfahren. B’tselem geht von mindestens 800.000 Häftlingen seit 1967 aus, etwa 20 % der Gesamtbevölkerung!

Vor dem Oktober 2023 gab es schon 5.192 sogenannte „security“ (Sicherheits-) Gefangene,

1.319 davon saßen in Administrativhaft. Im Juli 2024, also vor Abschluss des Berichtes, war die Zahl auf 9.623 angestiegen, darunter 4.781 administrative Häftlinge. Seit dem Oktober sind Tausende von Menschen festgenommen, über wechselnde Perioden festgehalten und wieder freigelassen worden. Der entscheidende Grund, so das Prinzip, ist schlicht und einfach die Tatsache, dass diese Leute Palästinenser sind.

Der Bericht von B’tselem endet mit einem eindringlichen Appell:

„Wir appellieren an alle Nationen und an alle internationalen Institutionen und Organisationen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Grausamkeiten, mit denen das israelische Gefängnis-System die Palästinenser quält, sofort zu beenden, und das israelische Regime, das dieses System etabliert hat und in Gang hält, als ein Apartheid-Regime zu benennen, das ein Ende finden muss.“

Wer ist B’tselem?

B’tselem wurde 1989 als Menschenrechtsorganisation gegründet. Das Ziel der Organisation ist es, israelische Politik in den Besetzten Gebieten zu ändern, um die Menschenrechte der Palästinenser zu schützen.

Yuli Novak ist seit Juni 2023 Direktorin und Nachfolgerin von Hagai El-Ad, der seit 2014 die Organisation leitete. 38 Angestellte arbeiten bei B’tselem. Die Arbeit stützt sich zuerst und vor allem auf die Feldarbeit, die inzwischen Palästinenser ausführen unter extrem schwierigen Bedingungen: in der Westbank, in Ost-Jerusalem und in Gaza.

Finanzielle Unterstützung erhält B’tselem aus Europa und aus den USA sowie von Privatleuten. Das Budget beträgt mehr als 2 Millionen Dollar.

Aufsehen erregte der Bericht vom Januar 2021, in dem Israel, vom Fluss bis zum Meer („from the river to the sea“) als Apartheid-Regime analysiert wurde.

Hier der link zur Webseite von B’tselem: www.btselem.org

Link zu CNN report: Christina Amanpour Interview mit Yuli Novak, Direktor von B’tselem vom 24.August 2024: https://edition.cnn.com/2024/08/14/world/video/amanpour-israel-abuse-prison-btselem-yuli-novak