#9: Das Recht ist auf unserer Seite
von Helga Baumgarten
Dr. E’krima Sabri, Mufti und Prediger an der Aqsa-Moschee, hat sich noch nie gescheut, Unrecht klar und furchtlos zu benennen und zu kritisieren. Er hat immer darauf bestanden, dass die Aqsa-Moschee, der haram al-scharif in Jerusalems Altstadt, den palästinensischen Muslimen gehört. Die bis dato letzte Herausforderung kam von Israels Polizeiminister Itamar Ben Gvir, einem überführten Rassisten, als dieser am 26. August mit Hunderten von jüdisch-israelischen Extremisten auf den al-Aqsa Compound eindrang. Vor der israelischen Presse verkündete er, dass jüdische Gläubige das Recht zum Gebet und zum Bau einer Synagoge dort hätten. Er bestand darauf, dass eine neue israelische Politik zum Gebet von Juden auf dem Tempelberg gültig sei. Und er setzte noch ein i-Tüpfelchen auf seine Provokation für alle palästinensischen Muslime: „Wenn ich frei wäre, meine Wünsche durchzusetzen, hätten wir die israelische Fahne schon längst dort gehisst.“
Dies steht in klarem Widerspruch zur israelischen Politik seit dem Juni-Krieg 1967. Der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan hatte gleich nach dem Krieg festgesetzt, dass der muslimische Waqf für den haram verantwortlich sei und dass der Status quo auf diesem für Muslime heiligen Ort erhalten werden müsse. Die israelische Regierung beschloss außerdem, dass Juden, die dort beten wollten, von der Polizei an die Westmauer („Klagemauer“) verwiesen werden.
Seit Jahren sind aber jüdische “Tempelberg-Extremisten“ aktiv. Der erste war Gershom Salomon, der in den siebziger und achtziger Jahren eine winzige Gruppe von „Temple Mount Faithful“ (die Getreuen des Tempelbergs) leitete, die einmal jährlich versuchte, den haram zu betreten, aber immer von der Polizei daran gehindert wurden. Inzwischen sind es Tausende, die zu den Tempelberg-Extremisten gehören und dort nicht nur beten, sondern auch den Tempel wiederaufbauen wollen.
Die offizielle israelische Reaktion auf Ben Gvir wurde am klarsten von Verteidigungsminister Gallan artikuliert: „Den Status quo auf dem Tempelberg zu untergraben, ist unnötig und unverantwortlich. Ben Gvirs Aktionen bringen Israel in Gefahr.“ Allerdings hat die Regierung Netanyahu schon seit Jahren nichts dagegen unternommen, dass der geltende Status quo stillschweigend aufgeweicht wurde. Innenminister Moshe Arbel von der religiösen Shas-Partei forderte dagegen klar, dass Ben Gvir in seine Grenzen verwiesen werden müsse.
Am deutlichsten formulierten führende jüdischer Rabbiner ihre absolute Ablehnung:
„Wir glauben alle an einen Gott und wollen Frieden zwischen den Nationen. Wir dürfen es Extremisten nicht erlauben, uns zu führen“, so Israels ehemaliger Oberrabbiner Yitzhak Yosef, dem sich andere Oberrabbiner anschlossen. Fünf von ihnen veröffentlichten sogar ein Video, in dem sie alle Besuche von Juden auf dem Tempelberg/al-Aqsa verurteilten: „… diese Minister repräsentieren nicht das Volk Israel… Die meisten Juden in Israel und überhaupt weltweit würden nicht auf den Tempelberg gehen…“.
Zwei Zeitungen der haredim (ultraorthodoxe Juden), Yated Ne’eman und Haderech, veröffentlichten Anzeigen, in dem sie Ben Gvirs Eindringen auf den haram scharf verurteilten. „Seit Generationen bestimmt die jüdische halacha, dass es Juden verboten ist, auf den Tempelberg zu gehen“. Eine der Anzeigen auf Seite eins war sogar sowohl auf Hebräisch als auch auf Arabisch!
E’krima Sabri formulierte in einem Interview auf al-Jazeera sehr eindringlich seine Position: al-Aqsa ist ein heiliger Ort für den Islam, für alle Muslime, vor allem für palästinensische Muslime. Allein die Idee, dass dies von irgendeiner Seite bestritten oder herausgefordert werden könnte, ist Anathema. Bei meinem Besuch in seiner Wohnung in Ost-Jerusalem am vergangenen Mittwoch (4. September) analysierte er Ben Gvirs „Angriff“ auf al-Aqsa, wie er formulierte: Ben Gvir sei davon ausgegangen, dass die Palästinenser, die Muslime in der arabischen Region, in einer Position der Schwäche seien. Aus seiner vermeintlichen Position der Stärke heraus habe er den haram ohne die, laut bestehender Abmachungen, notwendigen Vertreter der waqf betreten. Er sei als Angreifer gekommen und nicht als Gast, der sich an die Regeln hält. Seine Erklärungen vor der Presse seien in sich widersprüchlich, da er das Gesetz einerseits, seine Interpretation göttlichen Gebots andererseits, als Rechtfertigung benutzt habe. Der Mufti wies deshalb Ben Gvirs „Angriff“ scharf zurück. Die Realität sei unzweideutig: al-Aqsa, al-haram al-scharif, sei ein heiliger Ort für den Islam. Er stehe damit über menschlichem Gesetz. E’krima Sabri erläuterte die extreme Situation, die den palästinensischen Muslimen durch die israelische Besatzung, insbesondere durch die derzeitige rechtsextreme Regierung, aufgezwungen wird. Gläubige werden immer wieder daran gehindert, zum Gebet den haram al-scharif zu betreten. Deshalb gibt es inzwischen eine religiöse Anordnung (fatwa), dass alle Muslime an der Stelle, wo sie von der Polizei am Weitergehen gehindert werden, beten sollen. Dieses Gebet ist dem Gebet in der Aqsa-Moschee gleichgestellt.
Nur wenige Tage zuvor, am 2. August, hatte E’krima Sabri während des Freitagsgebetes für die Seele des ermordeten Ismail Haniyeh, Vorsitzender des Hamas Politbüros, gebetet.
Die israelische Reaktion ließ nicht auf sich warten. Der Mufti war kaum in seiner Wohnung angekommen, als ein Großkommando von Geheimdienst, Polizei und Grenzpolizei in Armeeuniform dort auffuhr. Er wurde verhaftet und nach Westjerusalem in die Moskobiyeh, das zentrale Jerusalemer Gefängnis, gebracht. Man verhörte ihn, klagte ihn der Unterstützung des Terrorismus und der Aufhetzung an. In einem administrativen Beschluss der Polizei, der schließlich nach fünf Stunden erfolgte, wurde ihm das Betreten des haram al-scharif für sechs Monate verboten.
Die Solidarität, die er erhielt, war überwältigend:
Arabische Knesset-Abgeordnete wie Ahmed al-Tibi und Ayman Odeh, ehemalige Knesset-Abgeordnete wie Mohammed Barakeh ebenso wie Bürgermeister der palästinensischen Städte und Dörfer in Israel besuchten ihn. Zu den Besuchern gehörte auch Atallah Hanna, Erzbischof von Sebastia im Griechisch-Orthodoxen Patriarchat in Jerusalem. Der algerische Präsident Abd al Majid Tabbun rief ihn an, gefolgt vom türkischen Präsidenten Erdogan.
Ich fragte ihn nach der Reaktion aus Amman – schließlich ist Jordanien offiziell für al-Aqsa zuständig. Der jordanische Außenminister habe Ben Gvir zwar öffentlich kritisiert, E’krima Sabri aber nicht kontaktiert.
„Und wer hat sie aus Ramallah angerufen?“, fragte ich abschließend.
E’krima Sabri antwortete mit fast süffisantem Lächeln: „Es scheint, dass die Nachricht dort nicht angekommen ist!“ Einen Tag vor unserem Treffen, also am 3. September, wurde der Scheich ein weiteres Mal von der Polizei zur Moskobiyeh gebracht zu einem erneuten Verhör. Wieder ging es um sein Gebet für Ismail Haniyeh. Der Scheich antwortete stereotyp auf die Fragen der Polizei: ich muss und kann im haram für jeden Muslim beten.Nach kurzer Zeit wurde er wieder im Polizeiauto nach Hause gebracht. Ob er in Ruhe gelassen wird, bezweifelt er allerdings.
Wer ist Akrima Sabri?
Seit 1973 ist er Scheich (khatib, also Prediger) in der Aqsa-Moschee. Yasir Arafat ernannte ihn 1994 zum Großmufti von Jerusalem. Diese Position behielt er bis Juli 2006. Nach der Ermordung von Arafat, setzte ihn dessen Nachfolger Mahmud Abbas (im Januar 2006 zum Präsidenten der Palästinensischen Autorität (sulta) gewählt) ab. Grund war wohl seine enorme Popularität, nicht zuletzt auf der Basis seiner klar formulierten Kritik an der israelischen Besatzung und deren Repressalien gegen Muslime auf dem haram. Vor der Beerdigung Arafats in Ramallah hatte der Scheich eine kleine Tasche mit Erde aus einer Ecke des haram gefüllt. Als er vor dem Leichnam Arafats stand, bedeckte er diesen mit der heiligen Erde aus Jerusalem. Schließlich war es Arafats Wunsch gewesen, auf dem haram beerdigt zu werden. Nun begleitete ihn wenigstens Erde vom haram, dank der Aktion von E’krima Sabri.
Heute ist er khatib, also Prediger in al-Aqsa, und Präsident des Obersten Islamischen Rates.
Über die Jahre gab es immer wieder regelrechte israelische Angriffe gegen die Aqsa-Moschee und gegen Muslime auf dem haram. Das begann 1968 mit der Brandstiftung gegen al-Aqsa, als E’krima Sabri noch nicht in Jerusalem predigte. Bei allen anderen gewaltsamen Aktionen seitens Israels war er präsent, z.B. am 8. Oktober 1990, als die Polizei 24 Palästinenser erschoss und zahllose Weitere verletzte, oder im September 2000, als Ariel Sharon auf den haram eindrang und damit die Zweite Intifada auslöste. 2017 schließlich, als Israel den gesamten haram für fast zwei Wochen abriegelte und die Palästinenser daran hinderte, dorthin zum Gebet zu gehen, wurde er vor bab al-asbat (dem Löwentor) durch eine Kugel der Polizei am Fuß und am Rücken verletzt. Er war einer von Zehntausenden von palästinensischen Muslimen, die gegen diesen unglaublichen Eingriff in die religiöse Freiheit in Jerusalem protestierten. Sabri wurde im Krankenhaus medizinisch versorgt und schloss sich sofort wieder den Demonstranten an. “Als wir die enorme Gefahr für al-Aqsa erkannten, nicht zuletzt nachdem der Minister für interne Sicherheit Gilad Eldan arrogant die israelische Souveränität über den gesamten haram deklarierte, bildeten wir eine breite Koalition.“
„Obwohl die Menschen aus der Westbank daran gehindert wurden, nach Jerusalem zu kommen, waren ständig Tausende von Jerusalemern zum Protest-Gebet vor den Toren des haram…. Je brutaler uns die Israelis angriffen, desto mehr Leute schlossen sich uns an. …
Einen derartigen Massenprotest hatte es nie zuvor gegeben.“ Sabri konnte viele junge Menschen zur Teilnahme bewegen. Auch politische Führer, Akademiker und Aktivisten wurden mobilisiert. Ganz Jerusalem stand vereint hinter dem Scheich und sein Bestehen auf Einheit machte ihn noch populärer als er vorher schon war.
https://www.arabnews.com/node/1147561/middle-east
Diese jahrzehntelangen Erfahrungen machen E’krima Sabri stolz auf die Jerusalemer, stolz auf alle Palästinenser. Er betont, dass sie immer da sind, immer die ersten und die Wichtigsten bei jedem Protest, gerade auch heute angesichts von Völkermord, Zerstörungen des Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung. Er moniert, dass die Unterstützung aus der arabischen und islamischen Welt nicht groß genug ist. Aber abschließend würdigt er die enorme Solidarität, durchaus auch im Westen, von den USA bis Europa, für die Palästinenser, speziell auch seitens der Studenten an den Universitäten weltweit.
Am Ende unseres Gesprächs betont er noch einmal seine Philosophie:
Man darf seine Überzeugungen nicht aufgeben. Man muss unverbrüchlich an ihnen festhalten. Denn das Recht ist auf unserer Seite.