#11: „Wer schweigt, ist Mittäter“

Panorama of Jerusalem Old City with Church of the Holy Sepulchre, Israel

Von Helga Baumgarten

Die Riverside-Kirche in New York: ein historischer Ort. Hier hat Martin Luther King jun. am 4. April 1967 seine Predigt gegen den Vietnam Krieg gehalten: „Beyond Vietnam: A time to break silence.“ (Jenseits von Vietnam: Wir müssen das Schweigen brechen).

57 Jahre später fordert ein palästinensischer Pfarrer dasselbe und klagt an:

„Wer schweigt, ist Mittäter“. https://www.youtube.com/watch?v=myoqdguyG84

Es ist derzeit nicht einfach, aus Jerusalem nach Bethlehem und nach Beit Sahour zu fahren, um Pfarrer Munther Isaac zu treffen. Immer wieder steht man vor Beton-Blöcken oder hermetisch geschlossenen Schranken, die einem am Weiterfahren hintern. Aber nach mehreren Versuchen sind wir in Bethlehem angekommen, wo Pfarrer Munther an der evangelischen Weihnachtskirche mitten in Bethlehem und zusätzlich an der evangelisch-lutherischen Kirche in Beit Sahour zuständig ist. An diesem Samstag treffen wir ihn in Beit Sahour.

Munther Isaac wurde weltberühmt mit seiner Weihnachtspredigt 2023, in der er die Welt, vor allem die christliche Welt, anklagt wegen ihres Schweigens zu Gaza. Die Predigt endet mit dem Satz, den er seinen Zuhörer und Zuschauern regelrecht einhämmert durch immer neue Wiederholungen:

„Diese Botschaft ist unsere Botschaft an die Welt von heute, und sie lautet einfach so:

Dieser Völkermord muss jetzt aufhören.“

Er wird sehr deutlich und hält mit seiner Kritik nicht zurück. Der Westen inklusive der westlichen Kirchen, so Pfarrer Munther, unterstützt Israels Völkermord auf allen Ebenen: militärisch durch immer neue Waffenlieferungen, finanziell mit ununterbrochenen Zahlungen und schließlich ideologisch. Grund sind – und wir sprechen ausführlich darüber –  der westliche Kolonialismus in neuer Form, der Rassismus gegenüber allen Nicht-Weißen, also „white supremacy“,  und die unverbrüchliche Unterstützung einer jeden israelischen Regierung und ihrer jeweiligen „Politik“ gegenüber den Palästinensern. Und diese „Politik“ besteht aus Siedlerkolonialismus und ethnischer Säuberung und konstituiert ein Apartheid-System.

Eben dagegen kämpft der Pfarrer, der sich selbst als „arabischer palästinensischer Christ“ definiert: in seinen Predigten, in Vorträgen per Zoom und auf Reisen, in den vielen Büchern, die er schon geschrieben hat. Aktiv ist er nicht nur individuell-persönlich, sondern vor allem in zwei „Organisationen“:

Da ist an erster Stelle „Kairos Palästina“ zu nennen, das 2009 gegründet wurde (siehe dazu Brief aus Jerusalem zu Abuna Atallah Hanna):  »A Moment of Truth« (Ein Moment der Wahrheit). Kairos Palästina baut auf den Erfahrungen Südafrikas auf, wo 1985 die erste Kairos-Initiative entstand.

https://www.sahistory.org.za/sites/default/files/archive-files3/boo19860000.026.009.354.pdf

Nicht zuletzt dieser christliche Widerstand beendete den Kampf dort gegen Rassismus, gegen die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und gegen das Apartheidregime. Ziel war die Herstellung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer Demokratie für alle.

Genau dies sind auch die Ziele von Kairos Palästina. Kairos Palästina betrachtet sich nicht als politische Bewegung, vielmehr baut es auf den biblischen Texten auf. Es spricht die Christen in aller Welt in der Sprache an, die sie kennen: in der Sprache des Evangeliums. Es vermittelt eine im Westen oft geflissentlich übersehene Tatsache, dass nämlich Palästina das Land ist, in dem Jesus die erste christliche Gemeinde gründete. Gleichzeitig kommuniziert es eine zentrale Botschaft, dass es in eben diesem Land um die gerechte Sache eines Volkes geht, das endlich in Frieden und Freiheit auf der Grundlage von Gerechtigkeit leben möchte.

Kairos Palästina ist aktiv in Palästina selbst und vor allem international. Delegationen der Gruppe nehmen weltweit an Konferenzen teil, vor allem an kirchlichen Konferenzen, z.B. zuletzt am Weltkirchenrat 2022 in Karlsruhe.

Auch Pfarrer Isaac war dort und ist bis heute einigermaßen entsetzt über die offiziellen deutschen Positionen: extrem einseitig auf der Seite Israels, ungeachtet der israelischen Besatzung über die Palästinenser und durch schlichtes Ausklammern der Realität von Siedlerkolonialismus und Apartheid. Die Mitglieder von Kairos Palästina in Deutschland waren der einzige Trost für Pfarrer Munther und die gesamte palästinensische Delegation in Karlsruhe. Seinen Freund, einen unerschrockenen Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit, Professor Ulrich Duchrow, hebt er dabei hervor. Duchrow lasse sich durch niemanden und nichts mehr einschüchtern. Wie die anderen Mitglieder von Kairos Palästina ist auch Pfarrer Munther viel unterwegs und besucht Kirchengemeinden weltweit, um vor Ihnen über die Lage in Palästina und insbesondere die Lage der Christen dort zu reden.

Inzwischen hat Kairos Palästina Partnerorganisationen überall neben Deutschland u.a. in der Schweiz und in den USA. Munther Isaac betrachtet sich als zweite Generation von Kairos Palästina und nennt Abuna Atallah Hanna und Pfarrer Mitri Raheb als die Gründer und die erste Generation.

https://www.kairospalestine.ps/index.php/about-kairos/global-kairos,

Die zweite Bewegung, in der er sehr aktiv ist und die er für besonders wichtig hält, ist

Sabeel oder präziser „das ökumenische Zentrum von Befreiungstheologie“, also ein palästinensisches Beispiel der in Lateinamerika entstandenen Befreiungstheologie.

Sabeel zielt ab auf theologische Befreiung durch den christlichen Glauben im Alltagsleben all derer, die unter Besatzung, Gewalt, Unrecht und Diskrimination leiden. Sie betrachten sich als palästinensische Christen, die inspiriert sind durch das Leben und die Lehre von Jesus Christus, der immer auf der Seite der Unterdrückten stand. Sie engagieren sich für Gerechtigkeit und versuchen, Frieden zu schaffen.

https://sabeel.org

Sehr wichtig ist für Sabeel (gegründet 1987 vom Jerusalemer Pfarrer Naim Ateek, einem Anglikaner, mit seinem Buch aus dem Jahre 1989: „Justice and only Justice. A Palestinian Theology of Liberation“) die ökumenische Einheit aller christlichen Gemeinden in Palästina und gleichzeitig die enge Kooperation mit den palästinensischen muslimischen Gemeinden.

(Bild von Webseite Sabeel mit dem ehemaligen katholischen Kardinal Michel Sabah)

Auch Sabeel hat inzwischen weltweit Partnerorganisationen. Sabeel Nordamerika (Friends of Sabeel – North America (FOSNA) hat übrigens die Predigt von Munther Isaac in der Riverside Church in New York am 14. August organisiert.  Beide Organisationen unterstützen die gewaltlose Initiative BDS: Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen.

In Europa, vor allem in Deutschland und speziell in der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) treffen sie da auf massive Kritik, ja offene Ablehnung. Selbst jeder Dialog, jede Auseinandersetzung über BDS wird abgeblockt. Und dann folgt die Verleumdung der palästinensischen Christen mit der pauschal-billigen Beschuldigung, sie seien Anti-Semiten.

Gerade den deutschen Christen… aber ähnlich auch den Christen in anderen europäischen Staaten und in den USA… wird offensichtlich nicht bewusst, wie sie die Palästinenser von oben herab behandeln. Und wie oft in Deutschland, nicht nur bei Christen, geht man davon aus, dass man grundsätzlich alles besser weiß. Pfarrer Munther klagt an, dass die offizielle Kirche sich anmaßt, den palästinensischen Christen theologische Nachhilfe zu geben, ja, ihnen zu „erklären“, wie sie ihre Unterdrückung durch den Zionismus und den israelischen Siedlerkolonialismus „verstehen“ müssen.

Während der derzeitige US-Präsident Joe Biden sich offen als Zionist bekennt, sind die Deutschen, nicht nur Regierung und etablierte Medien, auch die offizielle Kirche, praktisch Zionisten in ihrer Politik, ihrem Handeln und in ihrer Ideologie. Das war schon über die Jahre hin unerträglich für Palästinenser. Seit dem Beginn des Krieges gegen Gaza, seit Völkermord und erbarmungslose Zerstörung Gaza zur Hölle gemacht haben, sind palästinensische Christen wie Munther Isaac, sind Kairos Palästina und Sabeel nicht mehr bereit, dies stillschweigend hinzunehmen.

Und die Welt hört sie, muss sie anhören, nicht zuletzt in den Predigten von Pfarrer Munther.

Aber dieser klagt und schließt mit ersichtlichem Entsetzen: wir reden und schreiben ununterbrochen gegen den Krieg, gegen den Völkermord, fordern zumindest einen Waffenstillstand: aber bis heute sind wir gescheitert. Die israelische Armee kann ihren Völkermord ungehindert weiterführen, 24 Stunden live auf Bildschirmen und im Internet. Die Waffen schweigen nicht. Und die Welt und die Kirchen schauen zu!

Wer ist Munther Isaac?  

Er stammt aus Beit Sahour südlich von Jerusalem, der direkten Nachbarstadt zu Bethlehem. Nach dem Schulabschluss studierte er Civil Engineering an der Universität Birzeit und schloss mit einem Bachelor in Ingenieurswissenschaften ab. Aber dann kam der große Einschnitt auf seinem Lebensweg. Er entschied sich für ein Studium der Theologie und erwarb einen Magister vom Westminster Theologischen Seminar in Philadelphia in den USA. Seinen Doktor machte er in Oxford mit der Dissertation: „A Biblical Theology of the Promised Land”.

Er ist heute Pfarrer und betreut, wie schon oben angeführt, die evangelischen Gemeinden in Bethlehem und Beit Sahour. Sonntags muss er gleich zwei Sonntagspredigten halten. Die erste um 9 Uhr in Beit Sahour, die zweite um 10.30 in Bethlehem.

Er lehrt außerdem am Bethlehem Bible College. Schließlich zeichnet er verantwortlich für die Konferenzen „Christ at the Checkpoint”, die international hochgeschätzt und sehr einflussreich sind.  https://christatthecheckpoint.bethbc.edu/small-documentaries/

Neben seiner Arbeit als Pfarrer ist er sehr engagiert, schreibt und publiziert fast ununterbrochen.

Der Berliner AphorismA Verlag hat 2021 sein Buch „On the other Side of the Wall“ ins Deutsche übersetzt und herausgebracht: „Die andere Seite der Mauer“

https://www.lehmanns.de/shop/geisteswissenschaften/57169127-9783865750891-die-andere-seite-der-mauer

Seit dem Beginn des Völkermordes in Gaza ist er außerdem international in immer neuen Zoom-Vorträgen zu hören. Und er versucht zu reisen, wann immer das möglich ist, um die Botschaft aus Palästina von Völkermord, Siedlerkolonialismus, ethnischer Säuberung und Apartheid zu verbreiten. Vor allem aber, um Druck aus den internationalen Kirchengemeinden und Zivilgesellschaften aufzubauen gegen all die Regierungen im Westen, die bis heute den Völkermord unterstützen und mittragen.